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Theorie zur Kurzgeschichte

Zu viele Regeln verderben die Literatur. Trotzdem: Was sollte man bei einer Kurzgeschichte beachten?
 
Teil 3: Struktur und Aussage
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Aller Anfang ist schwer Zum Anfang
Wie fängt man eine Kurzgeschichte an? Natürlich gibt es da verschiedene Möglichkeiten. Kurz muss die Einleitung sein, das ist klar, sonst hat man nachher nicht mehr genug Platz. Oft bringt der erste Satz einen "Knaller", der das Interesse des Lesers gewinnt. Das könnte zum Beispiel ein interessanter Mensch mit einem besonderen, vorherrschenden Charakterzug sein.

Es gibt auch Geschichten, die mit einer Art Lehrsatz beginnen, z.B. "Wagenpannen sind immer ärgerlich, und sie passieren meist, wenn man sich gerade auf dem Weg zu einem wichtigen Termin befindet." (H. Katzmarz, Der Aufenthalt, aus der Newsgroup de.alt.geschichten).
 
Lineare Handlung Zum Anfang
Der Hauptteil führt den Helden manchmal in eine bedrohliche Situation, die oft durch seinen vorherrschenden Charakterzug bedingt ist. Meistens ist die Handlung linear; Rückblenden (wie in Hemingways "Schnee auf dem Kilimandscharo" oder Ambrose Bierces "Occurence at the Owl Creek Bridge") sind die Ausnahme.

Häufig werden aber entscheidende Tatsachen weggelassen, wobei der Reiz der Geschichte für den Leser darin liegt, dahinterzukommen, was in diesem Erzähl-Loch passiert ist. (z.B. Kleists "Die Marquise von O.")
 
Das Thema von Kurzgeschichten Zum Anfang
Die Themen von Kurzgeschichten sind sehr unterschiedlich. Es gibt Kriminal-, Science-Fiction-, Alltags-Kurzgeschichten usw. Bei Science-Fiction-Kurzgeschichten liegt das Problem darin, in aller Kürze die Verhältnisse einer fernen Zeit zu schildern. Den handelnden Personen sind die Lebensumstände vertraut, uns aber nicht.

In einer Geschichte, die in der Gegenwart spielt, kann man schreiben: "Er stieg in die S-Bahn". Damit ist uns klar, wie es dort aussieht. Wenn jemand in der Zukunft in die Z-Bahn einsteigt, dann wissen wir es nicht. Man kann versuchen, das kurz zu erklären, aber dann hat man einen essayistischen Einschub, der die Handlung unterbrechen kann. Phantastische, surreale Kurzgeschichten (Dürrenmatts "Der Tunnel", Wolfgang Hildesheimers "Das Atelierfest") sind eine Randform.
 
Pointengeschichten und Slice-of-life-Geschichten Zum Anfang
Was den Schluss angeht, so gibt es grundsätzlich zwei Typen von Kurzgeschichten: Die Pointengeschichte und die Slice-of-life-Geschichte oder Situationsgeschichte. Bei der Pointengeschichte steht am Schluss eine überraschende Wende.

Im Rückblick erkennt der Leser, dass es in der Geschichte Hinweise auf diese Wendungen gab. Der Leser wird durch etwas Unerwartetes überrumpelt und sagt sich doch: Das hättest Du dir ja eigentlich denken können; am Anfang der Geschichte war es ja eigentlich schon angekündigt. Die Trumpfkarte schon am Anfang herauslegen, aber so, dass es keiner merkt - das ist die Kunst dabei.

Pointengeschichten sind vom Ende her geschrieben. Auf dieses Ende läuft alles zu. Ein Beispiel für Pointengeschichten ist etwa Roald Dahls "Lammkeule". Pointengeschichten haben oft etwas Anekdotisches an sich, was bewirkt, dass sich der Leser manchmal in einer weit hergeholten Handlung nicht wiederfindet.

Bei der slice-of-life-Geschichte steht am Ende keine Pointe, am Anfang keine Vorbereitung. Sie ist das glatte Gegenteil der Novelle, zeigt keine "unerhörte Begebenheit", verzichtet oft auf dramatische Handlung und versucht, einen kurzen Einblick in das Alltagsleben eines Menschen zu geben, ihn in seiner natürlichen Umgebung zu beobachten und durch Alltagserlebnisse zu charakterisieren. Solche Geschichten haben oft einen offenen Anfang und einen offenen Schluss. Einige Beispiele:
- Joyces Geschichtensammlung "Dubliner", z.B. "Die Toten",
- Andersons Geschichtensammlung "Winesburg, Ohio", z.B. "Der Denker",
- Borcherts Geschichten, z.B. "Das Brot",
- Katherine Mansfields Geschichten, z.B. "An der Bucht"
 
Die Aussage: Notwendig oder nicht? Zum Anfang
Zum Schluss dieses Traktats noch ein paar Anmerkungen zur Aussage. Die Abneigung gegen die Suche nach der "Moral" einer Geschichte wurzelt bei vielen tief - häufig im Deutschunterricht. Mancher Leser und mancher Autor fragt sich: Muss denn jede Geschichte etwas bedeuten? Reicht es nicht, wenn der Leser Spaß dabei hat? Ja und nein.

Einerseits ist Literatur kein Transportmittel für die Wahrheit, und schon gar kein trojanisches Pferd für Propagandisten. Zuerst müssen Handlung, Stimmung und Personen stimmig sein. Aber andererseits haben gute Geschichten stets eine bestimmte Bedeutung. Es muss keine zu offensichtliche sein, keine "Moral von der Geschicht" wie im Märchen, aber etwas, was über die Handlung hinaus deutet.

Für den Leser wirklich neue Einsichten kann man wohl nur schwer vermitteln. Kurzgeschichten erinnern eher an etwas Bekanntes. Zum Beispiel ruft Langgässer in ihrer Geschichte "Saisonbeginn" ins Gedächtnis zurück, dass Jesus Jude war.

Man kann als Autor auch einer spannenden Handlung eine Bedeutung unterschieben. So z.B. Hemingway in "Das kurze glückliche Leben von Francis Macomber". Manchmal wird der Leser aber dabei überfordert: Er wird durch die Handlung mitgerissen und erkennt nicht, worum es dem Autor geht. Leichter ist das bei einer Alltagsgeschichte. Da kann sich der Leser auf die Frage konzentrieren, warum der Autor gerade diese (banale) Szene schildert (z.B. "Happy End" von K. Marti).

 
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Letzte Änderung: März 2003

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