Theorie zur Kurzgeschichte
Zu viele Regeln verderben die Literatur. Trotzdem: Was sollte man bei einer Kurzgeschichte beachten?
Teil 3: Struktur und Aussage | Zum Anfang |
Aller Anfang ist schwer | Zum Anfang |
Es gibt auch Geschichten, die mit einer Art Lehrsatz beginnen, z.B. "Wagenpannen sind immer ärgerlich, und sie passieren meist, wenn man sich gerade auf dem Weg zu einem wichtigen Termin befindet." (H. Katzmarz, Der Aufenthalt, aus der Newsgroup de.alt.geschichten).
Lineare Handlung | Zum Anfang |
Häufig werden aber entscheidende Tatsachen weggelassen, wobei der Reiz der Geschichte für den Leser darin liegt, dahinterzukommen, was in diesem Erzähl-Loch passiert ist. (z.B. Kleists "Die Marquise von O.")
Das Thema von Kurzgeschichten | Zum Anfang |
In einer Geschichte, die in der Gegenwart spielt, kann man schreiben: "Er stieg in die S-Bahn". Damit ist uns klar, wie es dort aussieht. Wenn jemand in der Zukunft in die Z-Bahn einsteigt, dann wissen wir es nicht. Man kann versuchen, das kurz zu erklären, aber dann hat man einen essayistischen Einschub, der die Handlung unterbrechen kann. Phantastische, surreale Kurzgeschichten (Dürrenmatts "Der Tunnel", Wolfgang Hildesheimers "Das Atelierfest") sind eine Randform.
Pointengeschichten und Slice-of-life-Geschichten | Zum Anfang |
Im Rückblick erkennt der Leser, dass es in der Geschichte Hinweise auf diese Wendungen gab. Der Leser wird durch etwas Unerwartetes überrumpelt und sagt sich doch: Das hättest Du dir ja eigentlich denken können; am Anfang der Geschichte war es ja eigentlich schon angekündigt. Die Trumpfkarte schon am Anfang herauslegen, aber so, dass es keiner merkt - das ist die Kunst dabei.
Pointengeschichten sind vom Ende her geschrieben. Auf dieses Ende läuft alles zu. Ein Beispiel für Pointengeschichten ist etwa Roald Dahls "Lammkeule". Pointengeschichten haben oft etwas Anekdotisches an sich, was bewirkt, dass sich der Leser manchmal in einer weit hergeholten Handlung nicht wiederfindet.
Bei der slice-of-life-Geschichte steht am Ende keine Pointe, am Anfang keine Vorbereitung. Sie ist das glatte Gegenteil der Novelle, zeigt keine "unerhörte Begebenheit", verzichtet oft auf dramatische Handlung und versucht, einen kurzen Einblick in das Alltagsleben eines Menschen zu geben, ihn in seiner natürlichen Umgebung zu beobachten und durch Alltagserlebnisse zu charakterisieren. Solche Geschichten haben oft einen offenen Anfang und einen offenen Schluss. Einige Beispiele:
- Joyces Geschichtensammlung "Dubliner", z.B. "Die Toten",
- Andersons Geschichtensammlung "Winesburg, Ohio", z.B. "Der Denker",
- Borcherts Geschichten, z.B. "Das Brot",
- Katherine Mansfields Geschichten, z.B. "An der Bucht"
Die Aussage: Notwendig oder nicht? | Zum Anfang |
Einerseits ist Literatur kein Transportmittel für die Wahrheit, und schon gar kein trojanisches Pferd für Propagandisten. Zuerst müssen Handlung, Stimmung und Personen stimmig sein. Aber andererseits haben gute Geschichten stets eine bestimmte Bedeutung. Es muss keine zu offensichtliche sein, keine "Moral von der Geschicht" wie im Märchen, aber etwas, was über die Handlung hinaus deutet.
Für den Leser wirklich neue Einsichten kann man wohl nur schwer vermitteln. Kurzgeschichten erinnern eher an etwas Bekanntes. Zum Beispiel ruft Langgässer in ihrer Geschichte "Saisonbeginn" ins Gedächtnis zurück, dass Jesus Jude war.
Man kann als Autor auch einer spannenden Handlung eine Bedeutung unterschieben. So z.B. Hemingway in "Das kurze glückliche Leben von Francis Macomber". Manchmal wird der Leser aber dabei überfordert: Er wird durch die Handlung mitgerissen und erkennt nicht, worum es dem Autor geht. Leichter ist das bei einer Alltagsgeschichte. Da kann sich der Leser auf die Frage konzentrieren, warum der Autor gerade diese (banale) Szene schildert (z.B. "Happy End" von K. Marti).
Bibliographisches | Zum Anfang |
- O. Schumann (Hrsg.), "Grundlagen und Technik der Schreibkunst", Wilhelmshaven: Heinrichshofen Verlag, 1983
- Manfred Durzak, Die deutsche Kurzgeschichte der Gegenwart, Stuttgart: Reclam, 1980.
- Rainer Könecke: Interpretationshilfen Deutsche Kurzgeschichten 1945-1968, Stuttgart: Klett, 1995
- Sol Stein: Über das Schreiben (Stein on Writing), Zweitausendeins, 6. Auflage 2000
Weiterführende Links | Zum Anfang |
- Darstellung von Gefühlen in Kurzgeschichten
- Die Perspektive in Kurzgeschichten
- Sol Steins Buch "Über das Schreiben". Ein Exzerpt.
- Mareen Göbel: Lebendige Figuren (The Tempest, 5-08 und 5-09)
- 45 Kurzgeschichten-Interpretationen
Letzte Änderung: März 2003
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