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Das Oberseminar auf Spatzenjagd

Ein Bericht über zweieinhalb Tage Wettlesen.

Der Bachmann-Wettbewerb ist vorüber. Auch wenn die Jury manchmal mit Kanonen auf Spatzen schoss - interessant war es auch dieses Jahr. Ein Bericht aus der Sicht des Fernsehzuschauers. 
München, 29. Juni 2003 (15 Uhr 30) - Das Wimbledon der Literatur? Der Sängerkrieg auf der Wartburg? Der Krieg am Wörthersee? Mitnichten. Bei den Tagen der deutschsprachigen Literatur, wie der Bachmann-Wettbewerb seit einigen Jahren bürokratisch heißt, treffen sich nicht die besten deutschsprachigen Literaten, um den Besten der Besten zu küren.

Literarische Begabtenförderung
Grass, Lenz und Walser kommen nicht nach Klagenfurt. Es geht auch nicht um literarische Größen wie Rowling oder Bohlen, sondern um Schriftsteller wie Zaimoglu oder Parei. Anfänger sind die wenigsten von ihnen. Viele haben schon erste Bücher veröffentlicht. Aber sie haben Publicity nötig, selbst das wenige, was ihnen Klagenfurt bieten kann. Der Bachmann-Wettbewerb ist ein Instrument der literarischen Begabtenförderung - nicht mehr und nicht weniger.

Die Blüte ihres Standes
Interessant war Klagenfurt auch dieses Jahr. Das liegt zu einem Gutteil an der Jury. Anders als die armen Literaten gehören ihre Mitglieder durchaus zu den besten und bekanntesten ihres Fachs. Sie schreiben für die Frankfurter Rundschau, die Zeit oder die Süddeutsche, sie haben Preise für Literaturkritik bekommen, sind als Autoren bekannt wie Josef Haslinger oder seit Jahrzehnten als Herausgeber tätig. Sie fahren das ganze Arsenal auf, das ihr Fach zu bieten hat. Und so kann schon der Eindruck aufkommen, hier befinde sich ein Oberseminar (Spinnen) mit Kanonen auf Spatzenjagd (Steinfeld).

Imaginieren und respondieren
Da liest ein Autor (Hens) eine ziemlich durchschnittliche Geschichte über den Besuch von JFK in Costa Rica, und die Juroren sprechen über die Dekonstruktion des Mythos. Da will Haslinger imaginieren und respondieren. Man spricht über Exotismus, wo es Exotik auch getan hätte. Nun ja, die Juroren sprechen frei, und sie sind nicht dafür angestellt, wie gedruckt zu reden.

Publikumspreis für den verhasstesten Juror
In der Jury sitzen auch unangenehme Vertreter ihres Standes. Dem Juror Thomas Steinfeld beispielsweise machte die Veranstaltung wenig Spaß. Das merkte man ihm an, wenn er über eines der vielen Anfängerwerke sprechen musste. Er sandte dann hilfesuchende Blicke nach oben, wirkte gequält. Mit alldem bewarb er sich um den Publikumspreis für den meistgehassten Juror.

Kein Herz für die Literatur?
Als Steinfeld dann den Text von Parei kritisierte, fiel Iris Radisch ein wenig aus der Rolle indem sie meinte: Wer so etwas sage, habe "kein Herz für die Literatur". Da klatschte das Publikum. Zurecht. Ganz abgesehen vom literarischen Wert des Textes: Wer so gequält lächelt, wenn er Autoren abkanzelt, hat es nicht anders verdient. Im Publikum sitzen wohl zu 80 Prozent Hobbyautoren. Und die fühlen sich mit dem misshandelten Autor auf dem heißen Stuhl solidarisch.

Mehrwert der Literatur
Doch insgesamt machte die Jury ihren Job gut - auch dieses Jahr wieder. Man lernt so einiges, wenn man den Juroren zuhört. Etwa wenn Haslinger meint, dass es bei der Ich-Perspektive zwei Gefahren gebe: die, dass das Ich nur noch von sich selber erzähle und die, dass das Ich beim Beobachten der Welt selbst unsichtbar bleibt. Oder Ilma Rakusa: Während in Schreibbüchern (zum Beispiel dem von Sol Stein, Anmerkung des Rezensenten) zu lesen ist, dass wir in einer Welt des Films leben, dass die Erwartungen des Lesers vom Film geprägt sind und dass man als Autor das berücksichtigen müsse, sagt sie, die Literatur könne den Film nicht auf dessen ureigenstem Gebiet schlagen, dem Realismus. Aber sie könne etwas, das der Film nicht könne. Sie müsse einen Mehrwert haben. (Zu diesem Credo passt, dass es Rakusa war, die die beiden lyrischen Autoren, Showghi und Egger, vorgeschlagen hatte.)

Sushi und Schweinsbraten
Und die Texte? Zunächst einmal fiel die große Bandbreite auf, schon bei den ersten beiden Beiträgen: Farhad Showghi las lyrische Prosa, Norbert Müller gleich darauf einen parodistischen. Das ist wie Handke und Bruno Jonas oder japanisches Sushi als erster und bayrischer Schweinsbraten als zweiter Gang. Von den 18 Texten waren diesmal nur zwei, der erste und der letzte, lyrische Prosa, den Rest konnte man auch beim ersten Zuhören verstehen. Die weitaus meisten Texte waren nicht nur Texte, sondern wirkliche Geschichten, zumeist aus Ich-Perspektive geschrieben.

Dorfgeschichten und Waldgeschichten
Was außerdem auffiel, war, dass sich relativ wenige Geschichten der wirklichen Themen der Literatur annahmen. Es mag abgeschmackt klingen, ich sage es dennoch: Es ist das Ewig-Menschliche. Liebe, Sexualität, Tod, Krankheit, Angst und Freude zum Beispiel. Stattdessen ging es um JFK, ums Trockenwohnen, um Wälder und Dörfer. Die Juroren bemängelten, die Autoren hätte zu wenig erlebt und würden deshalb über Pseudo-Erlebnisse schreiben, über Unfälle, Dorfgeschichten oder Waldgeschichten.

Spannend bis kurz vor Schluss
Viele Geschichten gaben sich bedeutungsschwanger ohne dass ganz klar wurde, worum es ging, wie bei der Story von Christina Griebel. Andere gingen zuviele Themen auf einmal an, wie der Text von über eine Dreiecksgeschichte, einen Selbstmord und die Glasknochenkrankheit. Mit Abstand am wenigsten gefiel der Text von Schreuf, der recht sentenzenhaft daherkam. Insgesamt waren die Geschichten nicht schlecht, auch wenn es keine Perlen gab. Letztes Jahr waren die Texte von Glaser, Pehnt und Arns auch meine klaren Favoriten. 2003 tat ich mich schwer, meine Favoriten zu benennen. Zu den Favoriten der Juroren gehörte Zaimoglu, der am zweiten Tag las. Dennoch blieb es dieses Jahr spannend bis kurz vor Schluss. Inka Parei las erst als Vorletzte. Und hier war die Jury, bis auf Steinfeld, enthusiastisch.

Preise
So war es keine Überraschung, dass der Ingeborg-Bachmann-Preis wie der Publikumspreis an Inka Parei ging, und dass Zaimoglu den Preis der Jury bekam. Der 3sat-Preis ging dann an Showgi, und - Sorry, Herr Showghi - ich habe das als eine Art Quoten-Preis für die lyrische Prosa verstanden. So, als hätten die Juroren sagen wollen: Nicht nur die Plot-Literatur hat Anerkennung verdient, auch die Literatur, die mehr "in der Sprache" arbeitet, wie es der Jury-Leiter von 2002, Robert Schindel, forderte. Der letzte Preis ging - nach mehreren Stichwahlen - an Lenze, wobei auch Olga Flor den Preis hätte bekommen können.

Kein Material? Nach Ende der Preisvergabe diskutierten Radisch, Steinfeld und Spinnen noch über die Unzulänglichkeiten in der deutschen Nachwuchs-Literatur. Da kam es dann wieder aus dem Mund von Iris Radisch, dass die jungen Leute nichts erleben außer ihres Germanistik-Studiums, dann in die Creative-Writing-Schulen gehen und versuchen, große Literatur zu schreiben. Der Nachwuchs, so Radisch, lernt zuerst das Handwerk und sucht dann verzweifelt nach Themen, statt andersrum. An diesem Punkt fühle ich mich angesprochen, auch wenn ich nicht Germanistik studiert habe. Gerade, weil ich in dieser Webstories-Ausgabe ein Creative-Writing-Buch empfehle.

Keine Kriegserlebnisse
Natürlich hat meine Generation den Zweiten Weltkrieg nicht miterlebt. Und zumindest der westdeutsche Teil hat nur den Konsum kennen gelernt, nicht Krieb, Vertreibung, Elend und Diktatur. Aber so ist das nun mal (Gott sei Dank). Andererseits: Themen gäbe es genug. Und eine gute Schreibschule, ein gutes Buch über das Schreiben, das ganze "literarische Vorfeld" - all das zeigt auch, wie man Themen findet. Im eigenen Leben. Im eigenen Unterbewussten. Auch wer im Paradies der 80er- und 90er-Jahre großgeworden ist, kann von Liebe erzählen, vom Tod der Eltern, von AIDS, von der Ausgrenzung von Homosexuellen oder Ausländern. Themen gibt es genug, man muss nur hinsehen. Vielleicht könnte Iris Radisch zustimmen, wenn ich sagen würde: Darauf sollte der Nachwuchs stärker achten.

Einen Teil der Veranstaltung verschlafen
Auch dieses Jahr, das geben wir gerne zu, hat der Autor dieses Berichts einen Teil der Veranstaltung verschlafen. Das kann er sich leisten, er hat sich extra zwei Tage freigenommen, obwohl er kein Profi ist und kein Geld dafür kriegt wie die Feuilleton-Kollegen. Aber nicht nur des gesunden Schlummers auf dem Fernsehsofa wegen hat sich Klagenfurt wieder mal gelohnt. Hoffentlich überträgt 3sat auch 2004 wieder die Lesungen und Diskussionen. Wir würden uns wieder frei nehmen.

Die Texte stehen unter http://bachmannpreis.orf.at als pdf-Dateien zum Download bereit. Zusammenfassungen der Diskussionen sind ebenfalls dort zu finden.

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Letzte Änderung: 2. Juli 2003

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