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Der Stoff, aus dem Geschichten sind

Woraus bestehen Geschichten? Aus Stoff, wie die Kleider, die wir anziehen. Aber was ist dieser ominöse Stoff und wo bekommen wir ihn her?
Inhalt:
  1. Der Stoff, aus dem Geschichten sind
  2. Zu nah dran oder zu weit weg
  3. Ideengeschichten
  4. Intellektuellengeschichten
  5. Gefühlsgeschichten
  6. Zeitungsgeschichten
  7. Katastrophengeschichten
  8. Sensationsgeschichten
  9. Alltagsgeschichten
  10. Was willst du mit dieser Geschichte aussagen?

1.) Der Stoff, aus dem Geschichten sind

Der Stoff aus dem Geschichten sind - was ist das? Eine schwierige Frage. Vielleicht könnte man sagen: Das ist das Thema der Geschichte. Aber da hätten wir nur ein nebulöses Wort durch ein anderes, ebenso vieldeutiges ersetzt. Also gehen wir den negativen Weg: Der Stoff hat nichts zu tun mit dem Schauplatz der Geschichte, ihren Personen, der Erzähltechnik, der Handlung oder der Botschaft. Stoff wäre dann das, was übrigbleibt, wenn man alles andere wegnimmt. Was bleibt dann noch? Etwas Unlesbares natürlich, etwas ganz Primitives, Abstraktes.

Ich schreibe eine Geschichte über Ehebruch, Geiz, Mordlust, Selbstzerstörungswut, das Scheitern, die Wut. All das sind Stoffe. Ich komme aber auch zu einem Stoff, wenn ich vormittags in die Stadt gefahren bin und zum Beispiel einen Mann in Nikolaus-Klamotten gesehen habe, der Schokoladentaler verteilt hat. Ich spinne den Gedanken fort: Was, wenn der Mann nicht verkleidet wäre und echtes Geld verteilen würde? Was könnte dahinter stecken?

Geschichten kommen zum Teil aus selbst Erlebtem, ein anderer Teil ist Phantasie. Die Vorstellungskraft schöpft wiederum aus Erinnerungen – Erinnerungen an eigene Erlebnisse, aber auch an Filme, Romane, Kurzgeschichten. Zumindest meine eigenen Geschichten kommen zum Teil aber auch aus dem Unterbewusstsein. Manchmal habe ich den Eindruck, dass ich im Grunde immer nur über mich selbst schreibe: meine Erfahrungen, meine Erlebnisse, meine Fantasie, meine Gefühle. Andere Hobbyschreiber haben mir ähnliches berichtet.

In diesem Artikel will ich aber nicht allzu viel psychologisieren. Es soll um den praktischen Aspekt gehen, also darum, aus was man alles eine Geschichte machen kann.

2.) Zu nah dran oder zu weit weg

Bestimmte Stoffe werden von uns Anfängern recht häufig gewählt. Es sind Stoffe aus dem eigenen Alltag, die einem besonders nahe gehen. Das können die Verletzungen sein, die man in der Liebe davonträgt, oder solche, die man in der Arbeit erleidet. Oft sind solche Storys dann auch noch sehr direkt und benennen die Gefühle: "Ich liebte sie so sehr" oder "Niemand hat so unter Mobbing gelitten wie ich." Das hilft vielleicht dem Autor, aber nicht der Geschichte.

Andere Autoren neigen zu Geschichten, die gar nichts mit ihnen zu tun haben. Sie schreiben Abenteuergeschichten, Science Fiction oder historische Romane. Und da fehlt dann oft das Authentische, man spürt zu wenig Emotion und vermisst die konkreten Details, die man eben nur dann kennt, wenn man sie selber beobachtet hat. Was die Gefühlsschreiber zu viel haben, haben die Distanzschreiber zu wenig und umgekehrt. Vielleicht sind die ersten zu nah dran an ihrem Stoff, die anderen zu weit weg?

Meiner Ansicht nach gibt es eine optimale Distanz des Autors zu seinen Stoffen. Wer zu nahe dran ist - wer eine Liebesgeschichte schreibt, weil er gerade selber unglücklich verliebt ist, zum Beispiel -, wird mehr Distanz brauchen. Wer zu weit weg ist - wer zum Beispiel als männlicher deutscher Student eine Geschichte über die Menstruationsbeschwerden einer japanischen Geisha aus dem 17. Jahrhundert schreibt - wird Probleme haben, sich einzufühlen.

Das hört sich an wie ein unlösbares Problem, ist es aber natürlich nicht – sonst gäbe es gar keine guten Storys. Wer aus dem heißen Gefühl heraus schreibt, braucht Abkühlung, und wer einen Kaltstart ins 17. Jahrhundert machen will, muss erstmal warm werden. Ich mache es so: Wenn ich am Stoff zu nah dran bin, dann lasse ich die Geschichte nach dem Aufschreiben erst mal liegen. Meine Gefühle kühlen ab und die Erlebnisse beginnen, sich mit der Fantasie zu mischen. Das kann zwei Wochen dauern oder in extremen Fällen vielleicht zwei Monate. Dann überarbeite ich die Story. Eine Geschichte über eine Geisha im 17. Jahrhundert habe ich noch nicht geschrieben, aber eine über einen Kamikaze-Flieger im Zweiten Weltkrieg. Es dauerte eine ganze Weile, aber als ich mir die Story nach ein paar Jahren wieder mal durchgelesen habe, habe ich erkannt, warum ich mich für die Probleme dieses Mannes interessiert habe - seine Gefühle hatten mit mir zu tun. Meinte ich zumindest, beim Wiederlesen. Jedenfalls hatte die Geschichte für mich einen Bezug zu mir bekommen, eine tiefere Bedeutung. In diesem Bewusstsein hab ich die Geschichte überarbeitet und meiner Ansicht nach verbessert.

3.) Ideengeschichten

Soweit ich mich erinnern kann, gehen meine ersten Schreibversuche auf eine Zeit zurück, als ich etwa 19 war. Ich war damals begeistert von Patrice Chéreaus Inszenierung von Wagners Ring des Nibelungen in Bayreuth. Mich faszinierte die Art, wie der Regisseur das Geschehen philosophisch deutete. Das regte mich zu einem kurzen Drama an, das Prometheus hieß, und das seltsamerweise nicht in den Kanon der gymnasialen Oberstufe aufgenommen wurde. Ich ging vor, wie es vermutlich auch Chereau getan hat, nahm einfach einen anderen Mythos und funktionierte ihn um. Das war Ideendichtung. Auch bei Kurzgeschichten gibt es sowas: Stories, die ihren Ursprung in einer philosophischen Theorie haben, einer politischen oder wissenschaftlichen Weltanschauung oder dergleichen. Genauso wie die Dramen Brechts seine marxistische Weltanschauung illustrieren oder die Texte von Frisch, Sartre oder Camus ein existenzialistisches Weltbild veranschaulichen. Ein Kurzgeschichten-Beispiel könnte "Der Tunnel" von Dürrenmatt sein.

4.) Intellektuellengeschichten

Später in meiner "Laufbahn" kam ein anderes Vorbild dazu, der Ulysses von Joyce. Ich habe mich durch dieses Buch quälen müssen, habe mehrmals aufgegeben und nach einem halben Jahr nochmal von vorn gelesen. Ich hatte das Gefühl, nicht mal der Handlung folgen zu können. Aber ich habe das als Herausforderung verstanden und mehr als ein Buch über dieses Buch gelesen, um es ansatzweise zu verstehen. Allmählich begann ich, den unterliegenden Plan zu erkennen, die Konstruktion dieses Buches, welche Kapitel welchen Stellen aus der antiken Odyssee entsprechen, wie die Episoden zusammenhängen und so weiter. Es faszinierte mich durch seine Raffiniertheit. Auch dieses Buch regte mich zu eigenen spätkindlichen Versuchen an: Ich schrieb ein paar Szenen eines mindestens ebenso schwer verständlichen Romans. Damals war ich schon so weise, nicht auf die Suche nach einem Leser dafür zu gehen. Aber Rätselgeschichten, die so schwer zu verstehen sind wie der Ulysses gibt es des öfteren. Ein Beispiel sind manche Storys von Hemingway und einige von Raymond Carver – Autoren, die ich für andere Geschichten bewundere. Geschichten sind zu einem gewissen Grad auch Rätsel, aber wenn es zu schwierig für mich wird, dann bin ich als Leser eingeschnappt oder unmutig. Gute Geschichten erzeugen manchmal am Anfang Spannung aus der Frage: "Worum geht es eigentlich". Später im Verlauf der Geschichte dominiert dann immer mehr die Frage "Wie wird es enden?". "Ein Winter unter Hirschen" ist so ein Beispiel. Allerdings ein zweischneidiges, denn das Ende habe ich nicht verstanden...

5.) Gefühlsgeschichten

Gefühlsgeschichten sind ein delikates Thema, aber ja – ich habe auch solche geschrieben. Sie sind mir noch peinlicher als meine anderen Ausrutscher. Ich kann mich nicht erinnern, dass aus einer solchen Geschichte von mir mal was geworden wäre. Wahrscheinlich sind mir einfach gefühlstriefende Storys unangenehmer als todlangweilige, deswegen hab ich meine Gefühlsgeschichten nicht mehr bearbeitet. Aber zurück ins Allgemeine, bevor dies eine Beichte wird. Ein guter Stoff berührt Gefühle - zunächst einmal die des Autors. Wenn der es dann schafft, die Gefühle auf den Leser zu übertragen, dann ist es eine gute Story. Gefühle beim Leser hervorzurufen ist ja wahrscheinlich die Hauptaufgabe eines Autors. Und eine enorme Befriedigung geht davon aus, wenn es klappt. Dazu muss man aber neben dem Gefühl auch noch etwas Handwerkszeug haben, viel Erfahrung und ein Gespür für das Publikum.

6.) Zeitungsgeschichten

Apropos Gespür für das Publikum: Boulevardzeitungen wie "Bild" sind deshalb so erfolgreich, weil sie die Gefühle der Leser ansprechen. Egal was man von dieser Zeitung hält, die Redakteure haben einen Riecher dafür, was zieht und was nicht. Und solche Stoffe sind für Geschichten ebenso geeignet. Zum Beispiel der Prozess gegen einen Mann aus der hessischen Provinz, der einen Freund getötet und ihn dann verspeist haben soll. Vielleicht ein bisschen reißerisch als Thema, aber es spricht die Neugier in uns an: Warum tut jemand sowas? Was für ein Mensch ist so einer? Ist so ein Kannibale völlig durchgeknallt oder nach außen ganz normal? Eine Geschichte über einen Sozialhilfeempfänger, der in Florida wohnt, weil er angeblich Depressionen hat, spricht Neid und Missgunst an, den Hass gegen "Faule und Arbeitsscheue". Sensationsjournalismus hin oder her: Solche Gefühle existieren in den meisten von uns, und bei den meisten sind sie stark. Als Autor kann man dieses Inventar aus dem Unterbewusstsein heraufbeschwören und nutzen. Darauf Schlitten fahren, vielleicht. Wer das Thema dann so behandeln will, wie Bild es macht – bittesehr. Wahrscheinlich produziert er Schund, aber das liegt dann an der (für eine Kurzgeschichte) zu direkten Art des Herangehens. Wer dagegen statt einen Mord zu beschreiben nur die Ahnung vermittelt, es könnte einer geschehen sein, ist schon näher dran an einer guten Story.

7.) Katastrophengeschichten

Viele Anfänger schreiben klischeebeladene Geschichten über zwischenmenschliche Katastrophen. Über einen alkoholisierten serbischen Soldaten etwa, der eine junge Frau vergewaltigt, während ihr Sohn zusehen muss. Oder den Ehemann, der zusehen muss, wie seine geliebte Frau an Knochenkrebs elend zugrunde geht. Schon klar, die meisten Autoren sind eher von der empfindsamen Sorte – sonst wären sie keine. Diese Sensibilität bringt mit sich, dass man sich von einem Zeitungsbericht, von einem politischen Magazin im Fernsehen oder auch der Erzählung eines Bekannten nur zu leicht beeindrucken lässt. Geht mir selber auch manchmal so. Aber gerade bei sowas droht Sentimentalität, Klischee und Kitsch. Wer dergleichen Katastrophen nicht selbst erlebt hat, kann nur die Phantasie und das Fernsehwissen verwenden. Dabei läuft man Gefahr, einem Klischee wie dem alkoholisierten, primitiven serbischen Soldaten aufzusitzen.

8.) Sensationsgeschichten

Sensationsgeschichten tauchen in vielen Zeitungen zur Saure-Gurken-Zeit auf. Dann werden Mythen wiederbelebt wie die Geschichte von der Vogelspinne, die aus der arglos gekauften Yukkapalme kriecht, vom nationalsozialistischen Arierbordell oder ähnliches. Die ganze Bandbreite dieser urban legends ist in dem bekannten Buch von Brednich (Rolf Wilhelm Brednich, Die Spinne in der Yucca-Palme, München, Verlag C.H. Beck, 1990) versammelt. Auch wer als Kurzgeschichten-Schreiber einfach so drauflosphantasiert, läuft Gefahr, dabei unbewusst solche Mythen einzubauen, weil man sie schon irgendwo mal gehört hat. Die Gefahr dabei: Der Leser kennt die Story wahrscheinlich schon und langweilt sich. Urban Legends sind letztlich nichts anderes als Handlungsklischees - also schon zu oft gelesene Handlungsmuster.

9.) Alltagsgeschichten

Klischees und Katastrophen – das ist der Stoff, von dem die Boulevardzeitungen leben. Es ist aber nicht nur das interessant, worüber diese Blätter schreiben. Ein einfacher Ehebruch ist für die Bildzeitung keine Zeile wert - es sei denn, es geht um einen Promi. Und doch ist der Seitensprung das Thema ungezählter Romane von Madame Bovary bis "Das kurze, glückliche Leben des Francis Macomber" von Hemingway. Das heißt, auch ein einfaches Geschehen (Frau betrügt Mann opder Mann betrügt Frau, der Betrogene kommt dahinter) kann uns bewegen. Das ist meiner Ansicht aber nur dann so, wenn wir den Betroffenen kennen oder zu kennen glauben. Der Seitensprung eines Prominenten ist für Bild interessant, weil die Leser den Akteur kennen. Analog ist der Seitensprung in einer Geschichte nur dann für den Leser interessant, wenn der Leser den Protagonisten vorher kennengelernt hat. Man muss also einen interessanten Charakter erschaffen, für den sich der Leser interessiert. Dann kann man aus einer einfachen Handlung viel machen. Irgend ein schlauer Literat hat mal sinngemäß geschrieben, ein Autounfall wäre okay, man müsste nur die Personen im Auto kennen, bevor es kracht. Alltagsgeschichten sind interessant, weil wir uns selbst, unseren eigenen Alltag darin erkennen. Man muss nur den Gefühlen nachspüren, die darin vorkommen. Eifersucht zum Beispiel. Oder Neid oder Liebe.

10.) Was willst du mit dieser Geschichte aussagen?

Eifersucht, Neid, Liebe, Wut - das sind große Worte, die in einer guten Kurzgeschichte vielleicht am besten gar nicht vorkommen. Da ist mehr das Indirekte angesagt. Man beschreibt eine Situation, zeigt zwei Personen, wie sie handeln, was sie miteinander reden, wo ihre Blicke hin gehen. Die Gefühle der Personen erschließen sich dann dem Leser von selbst, und viel mehr als das: Man ruft starke Gefühle hervor. Allerdings läuft man auch Gefahr, dass nicht jeder versteht, worum es eigentlich geht. Entweder weil der Zuhörer unter einer mehr oder weniger schlimmen Form von Autismus leidet, oder weil man es nicht gut genug gemacht hat. Deswegen sollte man auf die Frage nach der Aussage als Autor immer gefasst sein. Es ist bitter, aber sie kommt öfter als man denkt. Man hat seine Geschichte vorgelesen, und nach der Aufforderung, den Autor etwas zu fragen kommt als erstes: "Was wollen Sie damit aussagen? Das habe ich nicht verstanden." Man könnte nun sagen: "Für mich handelt die Geschichte davon, dass man Neugier auch manchmal bereut, wenn man nämlich etwas entdeckt, was man lieber nicht gewusst hätte." Der Nachteil, seine Geschichte den Lesern zu erklären, ist: Man nimmt ihnen die Freiheit. Und man kanalisiert die Diskussion. Ich habe mir eine andere Antwort zurechtgelegt: "Ich hoffe da auf den mündigen Leser. Der sich aus der Geschichte das herausnimmt, was ihn gerade interessiert, was er gerade brauchen kann. Das kann eine Figur sein, die er nicht mehr vergisst, eine Geste, eine Metapher oder ein Gedanke."

Stefan Leichsenring

(März 2005)

Bibliographisches

Die Ideen für diesen Essay sind mir im Laufe der Jahre gekommen. Sicher haben Bekannte und andere Autoren dazu beigetragen. Ihren Beitrag konkret zu benennen, war mir aber nicht möglich. Wer eine Originalidee von sich entdeckt, die ich möglicherweise übernommen habe, möge sich melden!

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