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Einprägsame Charaktere erschaffen

Bei einem Roman kann man sich manchmal an die Handlung nicht mehr erinnern, aber die Hauptperson steht immer noch plastisch vor einem. Wie kriegt man solche einprägsamen Charaktere hin?
Inhalt:
  1. Henne oder Ei, Handlung oder Charaktere?
  2. Figuren, Charaktere und Typen
  3. Klischeehafte Figuren
  4. Eindimensionale Pappkameraden
  5. Die psychische Grundausstattung des Protagonisten
  6. Äußerlichkeiten
  7. Wie Egon lebt
  8. Der Antagonist
  9. Die Perspektivfigur
  10. Nebenfiguren

Charaktere prägen sich ein. Vielleicht ist es dir auch schon einmal so gegangen, dass du dich bei einem Roman an die Handlung nicht mehr erinnern kannst, aber die Hauptperson steht immer noch plastisch vor dir. Das Wort Charakter weist darauf hin: Aus dem Griechischen übersetzt, bedeutet es soviel wie "eingeprägtes Zeichen"[1]. Charaktere prägen sich ein. Und die meisten Autoren wollen, dass man sich ihrer Geschichten erinnert. In diesem Artikel versuche ich zu ergründen, wie man das schafft.

1.) Henne oder Ei, Handlung oder Charaktere?

Womit beginnt man bei einer Geschichte? Mit dem Plot oder mit den Charakteren. Eine alte Frage, auf die die Literaturgelehrten unterschiedlich antworten. Bei meinen Geschichten ist es mal so und mal so. Manchmal steht eine Figur am Anfang, manchmal eine Handlung. Meine ersten Geschichten entstanden aus einer Handlung, und viele Figuren darin waren eher platt. Heute beginne ich eher mit einer Figur. Wahrscheilich ist es letztlich unerheblich, was "als erstes da ist". Man sollte nur darauf achten, dass das Zweite nicht zu kurz kommt.

2.) Figuren, Charaktere und Typen

Nicht jede Figur, die in einem Stück Prosa oder einem Drama vorkommt, ist schon gleich ein einprägsamer Charakter. So gibt es viele klassische Theaterstücke, in denen manche Figuren mit allgemeinen Bezeichnungen vorkommen wie "Der Soldat" oder "Die Amme". Das sind so genannte Typen [2], das heißt idealisierte Figuren, die kein Individuum darstellen sollen, sondern etwas Überindividuelles, eben Typisches. Auch in Kurzgeschichten werden Nebenfiguren oft nicht charakterisiert: Wenn es um den Inhalt eines frisch eingetroffenen Briefes geht, braucht man deswegen dem Briefträger nicht unbedingt einen Schnauzbart und ein seltsam schlüpfriges Wesen zu geben. Problematisch wird es, wenn die Hauptpersonen Typen sind. Bei den Charakteren kann man einiges falsch machen. Im Folgenden ein paar typische Missgeburten.

3.) Klischeehafte Figuren

Klischeehafte Figuren sind solche, die wir schon aus vielen Geschichten kennen: der tapfere Indianerhäuptling, der muskelstrotzende Held, der mit allen Wassern gewaschene Geheimagent, die wunderschöne Prinzessin, der weise Eremit, der geldgierige Jude, der Neonazi ohne Selbstbewusstsein, der spießige Beamte, der Besserwessi, der primitive Prolet, der smarte, gutverdienende Schwiegersohn-Typ, die dumme, blonde Sekretärin oder Friseuse, der dümmliche Ostfriese, der krachlederne Bayer, der machohafte Spanier, der spröde Norddeutsche, der emotionale Italiener, und so weiter, und so weiter. Da der Leser diese Typen meistens schon kennt, wird er sich schwerlich für ihr Schicksal interessieren.

4.) Eindimensionale Pappkameraden

Auch wenn eine Figur nicht klischeehaft ist, kann sie langweilig sein. Zum Beispiel, wenn er ein eindimensionaler Pappkamerad ist. Das geschieht, wenn wir den Protagonisten mit nur einer Eigenschaft ausrüsten. Ist er zum Beispiel nur eifersüchtig, dann ist er eindimensional. Das ist sicher zu wenig für die Hauptfigur eines Romans, und wohl auch für die meisten Kurzgeschichten. Der Protagonist braucht einen inneren Konflikt, also auch eine positive Seite. Ebenso braucht der Antagonist etwas Positives, damit er kein absoluter Finsterling ist. Was für den moralischen Aspekt stimmt, ist auch für den Aspekt der Fähigkeiten richtig: Ein Held, der keine Schwäche hat, wirkt nicht glaubwürdig. So ist Siegfried im Nibelungenlied unverwundbar – bis auf die Stelle, auf die bei seinem Bad im Drachenblut ein Blatt fiel. Und James Bond hat eine Schwäche für die Frauen, die deswegen der Schurke oft als Köder für ihn verwendet.

5.) Die psychische Grundausstattung des Protagonisten

Die Hauptpersonen der meisten Kurzgeschichten sind etwas normaler als James Bond oder Siegfried. Wenn sie überhaupt einen Namen haben, heißen sie zum Beispiel Egon Prokop. Wie statten wir diesen Protagonisten aus, damit er interessant wird? Um sich von einem Typen zu unterscheiden, sollte er unverwechselbar, vielseitig und widersprüchlich [2] sein. Wie wird er unverwechselbar? Sol Stein gibt in seinem Buch "On Writing" eine gute Antwort:

Im Kern einer starken Charakterbeschreibung finden wir Exzentrizität. [3]

Exzentrisch wird er durch sein Aussehen, seine Ansichten, sein Verhalten, seine Ziele. Wenn die Hauptperson ein Mensch ist, der an einem Montagmorgen im Anzug in der S-Bahn einen freien Platz sucht, ist sie eher alltäglich. Wenn dieser Mensch aber eine Kanonenkugel an einer Fußkette hinter sich herschleppt? Vielleicht ist das etwas dick aufgetragen, aber interessant wäre er dann, oder?

Und wie wird die Figur "vielseitig und widersprüchlich"? Nun, das ist einfach: Indem man ihm einen inneren Konflikt gibt. Ein Mann, der seine Frau liebt, ist mehr oder weniger langweilig. Ein Mann dagegen, der unsicher ist, ob er seiner geliebten Frau vertrauen kann, ist der Ansatzpunkt für eine Geschichte. Weil er einen inneren Konflikt hat, der ihm Feuer unter dem Hintern macht. Sagen wir also, unser Egon fürchtet, dass seine Frau fremdgeht.

Da sind wir bei einem weiteren Punkt: "Unverwechselbar, vielseitig und widersprüchlich" reicht nämlich noch nicht. Er muss auch etwas bestimmtes unbedingt wollen, das heißt, er braucht eine bestimmende Leidenschaft. Bei unserem Egon ist es die Eifersucht.

Irgendwas fehlt noch. Einen eifersüchtigen Vorstadt-Ehemann wie Egon gibt es sicher in tausenden von Geschichten. Vielleicht eine Prise Exzentrizität. Die Kanonenkugel am Bein passt schlecht zu ihm, es sei denn wir wollen eine Groteske schreiben. Eine Nummer kleiner vielleicht. Sagen wir, er ist behindert. Rollstuhl fällt einem da sofort ein, nehmen wir lieber etwas Ausgefalleneres: Egon ist blind. (Das passt auch, weil es so schön an das Sprichwort "Liebe macht blind" erinnert.)

6.) Äußerlichkeiten

Psychisch hat Egon damit schon eine Grundausstattung. Es reicht aber natürlich nicht, als Autor zu wissen, wie Egon tickt. Man muss das auch an den Leser vermitteln, man muss Egon charakterisieren. Ein Element ist sein Aussehen. Ich könnte Egon so aussehen lassen wie einen Bekannten oder Freund, dessen Äußeres mir sehr geläufig ist. Oder ich suche ich mir aus einer Boulevardzeitung ein Gesicht heraus, das zu ihm passt. Nicht das von einem Prominenten, sonst bin ich zu festgelegt. Es sollte von Geschlecht, Alter und Typ her passen. Wenn ich ein Gesicht für Egon suchen würde, würde ich zum Beispiel einen Mann Anfang vierzig suchen, der nicht zu sehr intellektuell aussieht. Die Stimmung sollte passen: Wenn der Protagonist in der Geschichte ständig traurig ist, sollte das Gesicht nicht strahlend lachen. Und bei unserem blinden Egon werde ich wahrscheinlich eine dunkle Sonnenbrille über die Augen malen müssen, wenn ich nicht Glück habe und einen Blinden in der Zeitung finde.

Ich weiß nun, wie das Gesicht von Egon aussieht. Und der Rest? Ich will keine Vorlage für ein Phantombild schreiben. Und damit sich der Leser eine Figur vorstellen kann, ist es auch gar nicht notwendig, sie in allen Details zu beschreiben. Im Gegenteil: Wenn man auf Seite eins der Geschichte die Figur mit drei Details beschreibt, hat der Leser diese oft schon auf Seite zwei wieder vergessen. Besser nur ein Detail, das dann in einer anderen Formulierung wieder aufgegriffen wird. Wir brauchen also ein Kennzeichen für Egon. Etwas Äußerliches, was zu ihm passt. Egon ist etwas unsicher, was seine Frau angeht. Eine passende Geste wäre vielleicht: Er knetet die Oberlippe mit den Fingern. Es könnte auch seine Hose sein, deren Farbe unbestimmt zwischen Grau, Blau und Grün schwankt. Es könnte sein überlanger, beim Gehen pendelnder Oberkörper sein, oder die Hände, die er ständig in den Taschen hat.

7.) Wie Egon lebt

Egon ist blind, aber nicht stumm. Deswegen werden wohl Dialoge in der Geschichte vorkommen. Dann ist es entscheidend, wie Egon spricht. Um seine Wirkung auf andere zu beurteilen, ist es auch wichtig, wie groß und wie dick er ist und wie er geht. Natürlich muss ich als Autor wissen, was Egon für eine Schulausbildung hat - er ist Realschulabsolvent. Und welchen Beruf er ausübt - Egon ist Telefonist bei der Post. Je mehr man als Autor von seinem Protagonisten weiß, desto besser. Es gibt Leute, die sagen, man müsste wissen, welche Partei der Protagonist wählt, was er am liebsten isst und welche Lieblingsfarbe er hat ... Man kann alles übertreiben. Aber je lebendiger eine Person in der Vorstellung des Autors ist, desto lebendiger wird sie auf den Leser wirken.

8.) Der Antagonist

Die meisten Geschichten brauchen einen Konflikt, um wenigstens eine gewisse Spannung aufzubauen. Wenn es kein innerer Konflikt ist, dann benötigt die Story einen Antagonisten. Wenn der Konflikt schon feststeht, ist der Charakter des Antagonisten einfach festzulegen. Bei unserem Familienvater Egon ist der Antagonist die Ehefrau Marion. Das hat den Vorteil, dass innerer und äußerer Konflikt miteinander zu tun haben: Egon ist unsicher, ob er Marion vertrauen kann und soll (innerer Konflikt). Und er streitet ab und zu mit ihr, hält ihr vor, dass sie zu oft abends nicht da ist (äußerer Konflikt). Der Antagonist muss fast genauso gut charakterisiert sein wie der Protagonist. Marion ist eine studierte Betriebswirtin, recht zielbewusst und energisch. Auch für Marion suche ich mir ein Foto. In diesem Fall eine Frau Ende dreißig, nicht zu hässlich, damit sie fremdgehen könnte. Aber auch kein Püppchen, sie ist eine Mama, ich will sie in der Balance halten.

9. Die Perspektivfigur

Welche Person die Perspektive trägt, ist wichtig. Es kann Egon sein, also der Protagonistsein, muss es aber nicht. Genausogut kann man den Antagonisten nehmen oder eine Nebenfigur. Natürlich kann die Perspektive auch auktorial sein - das heißt, die Perspektivfigur ist nicht Teil der Handlung, steht außerhalb. Aber auktorial ist out, deswegen wollen wir das außer acht lassen. Wichtig ist, dass die Perspektivfigur positive Züge hat. Denn mit der Perspektivfigur identifiziert sich der Leser. Das tut er nicht gerne, wenn die Figur ein Finsterling ist. Gut ist es auch, wenn die Perspektivfigur geistig nicht allzu beschränkt ist. Sonst bleiben viele Dinge von ihr unbemerkt, also auch unbemerkt vom Leser. Abzuraten ist schließlich von einer Perspektivfigur, die dem Autoren-Ich zu ähnlich ist. Das betrifft vor allem Ich-Geschichten. Denn dann ist man zu wenig souverän bei der literarischen Gestaltung. Wenn man also als Student über einen Studenten schreiben möchte, dann besser in der Er-Perspektive, sonst rutscht man ins autobiografische Schreiben. Oder man bleibt bei Ich, macht aber einen Lehrling daraus.

10. Nebenfiguren

Bei Nebenfiguren ist es nicht so wichtig, wie sie aussehen und welches Weltbild sie haben. Aber auch hier ist manchmal ein Mindestmaß an Charakterisierung nötig. Bei unserer Familiengeschichte könnte Tochter Jana eine Nebenfigur sein. Sie ist gewissermaßen das Objekt der Begierde. Egon will ein harmonisches Familienleben, damit Jana in einem "anständigen" Umfeld aufwächst. Marion will die Familienidylle aber nicht auf Teufel komm raus. Sie bleibt abends nicht Jana und Egon zuliebe zu Hause, sondern engagiert sich in einem kulturellen Kreis, der die Stadtteilgeschichte erforscht. Dort lernt sie auch Männer kennen. Aber da sind wir schon mitten in der Geschichte, und die kann ich nun hier nicht mehr hinschreiben.

Stefan Leichsenring

(November 2004)

Bibliographisches

[1] Duden: Deutsches Universalwörterbuch, Mannheim: Duden, 2003, Stichwort "Charakter"

[2] Gero von Wilpert, Sachwörterbuch der Literatur, Stuttgart: Körner, 2001, Stichwort "Charakterisierung"

[3] Sol Stein, Über das Schreiben, Frankfurt/Main: Verlag Zweitausendeins, 6. Auflage, 2000, S. 95

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