Leixoletti.de
Kurzgeschichten und Interpretationen
Startseite > Kurzgeschichten-Interpretationen > Heinrich Böll: Wanderer, kommst Du...

Heinrich Böll: Wanderer, kommst Du nach Spa...

- Inhaltsangabe und Interpretation -

In seiner wohl bekanntesten Geschichte erzählt Böll von einem schwer verwundeten, jungen Soldaten. In eben der Schule, die er noch bis vor kurzem besucht hat, wird er nun operiert.

Bölls Texte seien so kunstlos, dass man auch Schüler mit geringer Leseneigung dafür gewinnen könne: Dieses wenig schmeichelhafte Lob unterschiebt der Literaturkritiker Burkhard Spinnen den deutschen Gymnasiallehrern. Kunstlose Texte! Das klingt wie ein Sakrileg, wie Rufmord am deutschen Paradeliteraten. Es ist was dran, sagt Spinnen, und auch wieder nicht. Einfach sagen, was Sache ist, statt sich in schönen Metaphern ergehen – wer das will, ist bei Böll richtig, so könnte man Spinnens Urteil umschreiben. Sehen wir am Beispiel von einer bekannten Geschichte, wie diese "kunstlose" Literatur geschrieben ist.

Inhaltsangabe

Der Ich-Erzähler, ein junger Soldat, wird als Verwundeter in eine Schule getragen, die als Lazarett verwendet wird.

Vorbei an Büsten und Bildern von antiken Geistesgrößen, deutschen Herrschern, Rasse-Archetypen usw. wird er in den Zeichensaal getragen, der als Operationssaal fungiert. Allmählich wird ihm klar, dass es die Schule ist, die er bis vor kurzem besucht hat. Der Schwerverwundete merkt erst jetzt, dass ihm beide Arme und ein Bein fehlen. Der Arzt gibt ihm eine Spritze, um ihn zu operieren. Dann erkennt der Soldat seine eigene Handschrift an der Tafel: "Wanderer, kommst du nach Spa..." steht da, als Schreibübung in verschiedenen Schriftarten. Und er bemerkt unter den Helfern Herrn Birgeler, den Mann, der früher als Hausmeister die Schulmilch verkaufte.

Am Schluss bittet der Schwerverwundete, der vielleicht in den nächsten Minuten sterben wird, Birgeler um Milch.

Interpretation

In der konsequent aus der Ich-Perspektive erzählten Geschichte wird gezeigt, wie das zur Zeit des Nationalsozialismus übliche Bildungssystem als Vorbereitung für den Heldentod dienen konnte.

Wenn der Soldat an den Gemälden im Schulhaus vorbeigetragen wird, so ist das wie die Promenade durch eine Ausstellung, nur dass hier der Betrachtende nicht ein Schöngeist ist, der von Gemälde zu Gemälde schreitet, sondern ein Sterbender, der getragen wird. Die Abfolge der Bilder ist allerdings nicht streng historisch, sondern Antike und Gegenwart sind bunt durchmischt. Es geht Böll nicht um die Geschichte, sondern um die Bildungsinstitution des preußischen Gymnasiums.

Humanismus und Nazitum

Humanistische Bildung (Griechenland, Rom) und Nazi-Ideologie wurden in der Schule parallel vermittelt - bis hinein in den Zeichenunterricht. So wurde das Zitat von dem Spartaner Leonidas ("Wanderer, kommst du nach Sparta, so sage, du habest uns liegen gesehen, wie das Gesetz es befahl.") für Schreibübungen verwendet.

Leonidas (übrigens auch der Name einer hervorragenden belgischen Pralinenmarke - pardon) verteidigte 480 vor Christus mit 300 anderen den Thermopylenpass gegen die anrückenden Perser und opferte sein Leben und das seiner Kameraden im Kampf. So ist das Zitat ein Verweis auf die Helden-Ideologie des Nationalsozialismus. Doch das Zitat ist verstümmelt (weil die Tafel zu kurz war) - wie der junge Soldat, den die Folgen dieser Ideologie das Leben kosten. 

Belsazar und das Menetekel

Gleichzeitig spielt die Handschrift an der Tafel auf die biblische Erzählung von dem babylonischen Herrscher Belsazar an, dem eine Feuerschrift an der Wand das Ende seines Reiches prophezeit. Diese Botschaft, "Mene mene tekel, ufarsin", bedeutet "gewogen und zu leicht befunden". Das kann auch ein hämischer Kommentar zum Schicksal des jungen Soldaten sein. Oder es lag Böll daran, den Untergang Babylons und den des Nazireiches in eine Parallele zu bringen.

Kurz nachdem der Soldat seine Handschrift erkannt hat, wird ihm klar, wie stark er selbst verwundet ist: Ihm fehlen beide Arme und ein Bein. Auf dem Operationstisch liegend, kommt er sich wie ein Embryo vor. Das Verlangen nach Milch ist der Wunsch, in die Kindheit zurückzukehren.

Kulminationmsgeschichte

Bei "Wanderer, kommst du nach Spa..." handelt es sich um eine Kulminationsgeschichte: Die Ahnung des jungen Soldaten, es könnte sich um seine eigene Schule handeln, wächst allmählich, wird langsam zur Gewissheit. Doch erst als der Soldat seine eigene Handschrift erkennt, kann er sicher sein. Der Soldat kommt vom Erdgeschoss nach oben, eine Bewegung, die sich parallel zu der wachsenden Gewissheit abspielt und diese äußerlich erfahrbar macht. Die von draußen hereindringenden Artilleriegeräsche tragen dazu bei, das Bild eines sich allmählich steigernden Infernos entstehen zu lassen.

Böll versucht so, die Spannung langsam zu steigern. Doch die Geschichte verfehlt ihre Wirkung auf den Leser: Der Soldat will es nicht wahrhaben, für den Leser steht aber schon bald fest, dass es sich um die Schule des Soldaten handelt.

Böll versus Hemingway

Im Unterschied zu den Geschichten Hemingways - etwa "Soldaten zuhaus" - scheut sich Böll nicht, die Gefühle des Soldaten zu schildern. Er hat "überall Schmerzen", sein Herz schlägt "wie verrückt", er erschrickt "tief und schrecklich". Hemingway hätte die Gefühle des Schwerverletzten nicht so drastisch geschildert, Hinweise gegeben, aber das Schreckliche an der Lage des Soldaten der Phantasie des Lesers überlassen.

Heinrich Böll

"Wanderer, kommst Du nach Spa..." ist wohl eine der bekanntesten Geschichten eines der bekanntesten deutschen Autoren. Böll (1917-1985), begann nach seiner Entlassung aus der Kriegsgefangenschaft 1947, Kurzgeschichten zu schreiben, die sich an Hemingway anlehnten. Bald ging er zu Romanen über, die heute wohl populärer sind. Von den späteren Erzählungen wurde "Die verlorene Ehre der Katharina Blum" (1974), vor allem durch ihre Verfilmung von Schlöndorff und Trotta am bekanntesten.

Bibliographisches

Letzte Änderung: März 2008

http://www.leixoletti.de

E-Mail: webmaster@leixoletti.de

© Stefan Leichsenring. Alle Rechte vorbehalten.