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Judith Hermann: Sonja

- Inhaltsangabe und Interpretation -

Eine schöne Geschichte aus dem Prosaband "Sommerhaus, später" von der vielgerühmten Nachwuchsautorin.

Inhaltsangabe

Der Ich-Erzähler begegnet Sonja zum ersten Mal im Mai, auf einer Zugfahrt von Hamburg nach Berlin. Er hat seine Freundin Verena besucht, in die er sehr verliebt ist. Sonja ist nicht schön, aber irgend etwas an ihr fasziniert ihn, so dass er sie zwei Wochen später anruft. Sie treffen sich in einer Kneipe, ohne dass etwas passiert.

Im Juni kommt Verena nach Berlin. Der Ich-Erzähler - ein Maler - eröffnet eine Ausstellung. Als er frische Luft schnappen will, entdeckt er Sonja. Sie wirft ihm vor, sich nicht gemeldet zu haben. Er sagt ihr, seine Freundin sei hier. Sie wusste nicht, dass er eine Freundin hat, ist verstört, macht aber keine Szene.

Im Juli fährt Verena zurück nach Hamburg. Der Ich-Erzähler ruft Sonja an, aber sie entzieht sich ihm - fast vier Monate lang. Dann bekommt er eine Einladung zu einer Party. Dabei spricht Sonja kaum mit dem Maler, verschwindet mit einem anderen Mann. Der Ich-Erzähler geht wütend nachhause.

Danach sieht er Sonja fast jeden Tag. Er fühlt sich geschmeichelt durch ihre Bewunderung, besonders da auch andere Männer sie anziehend finden. Sonja erzählt wenig von sich. Sie ist "biegsam", bietet Projektionsfläche. Sie gehen zusammen aus, sonst aber geschieht nichts zwischen ihnen. Der Ich-Erzähler vergisst Verena nicht, er glaubt, nicht in Sonja verliebt zu sein. Verena aber fürchtet, er betrüge sie mit anderen Frauen. Sie kündigt einen längeren Besuch im März an. Sonja erfährt dies und verschwindet.

Verena kommt, der Ich-Erzähler ist glücklich. Im Juni fahren die beiden in ein Freibad. Dort sieht der Maler Sonja, die zufällig direkt neben dem Platz sitzt, den Verena aussucht. Er bleibt stehen, will dort nicht sitzen. Schließlich geht Sonja. Er aber läuft ihr hinterher. Sie sagt: "Wollen wir uns sehen oder nicht." Er sagt "ja". Er kehrt zu Verena zurück. Sie hat nichts begriffen, ist nicht eifersüchtig.

Irgendwann fährt Verena zurück nach Hamburg. Er glaubt, sie sei seiner für eine Weile überdrüssig geworden, ihre Eifersucht wäre verschwunden. Im Sommer unternimmt der Ich-Erzähler viel mit Sonja, übernachtet in ihrer Wohnung, aber ohne mit ihr zu schlafen. Als Sonja von Heirat und Kindern spricht, verwirft der Maler das als Unsinn. Doch er bekommt plötzlich Angst, Angst vor der "Möglichkeit eines Lebens mit einer seltsamen kleinen Person, die nicht sprach, die nicht mit mir schlief, die mich meist anstarrte, großäugig, von der ich kaum etwas wusste, die ich wohl liebte, letztendlich doch." (S. 79)

Der Maler fährt zu Verena, macht ihr einen Heiratsantrag, sie nimmt an. Zurück in Berlin, besucht er Sonja erzählt beiläufig von der Hochzeit. Sie schmeißt ihn raus - kühl und ohne Szene, sie ruft ihn nicht zurück. Er ist erstaunt, glaubt, sie werde den Kontakt zu ihm wieder aufnehmen. Doch das tut sie nicht. Im Dezember geht er noch einmal zu ihrer Wohnung, doch sie ist ausgezogen. Er sieht Sonja nicht wieder.

Interpretation

Die Erzählung "Sonja" überstreicht einen Zeitraum von etwa anderthalb Jahren. Hermann erzählt die Geschichte eines Mannes zwischen zwei Frauen. Er liebt sie beide. Sonja ist deutlich jünger als er, Verena ist viel schöner, aber Sonja ist bei ihm in Berlin, wärend Verena in Hamburg lebt. In der Geschichte geht es um die Liebe, die Liebe zwischen einem jungen Mädchen und einem deutlich älteren Mann - allerdings geht die Liebe hier nicht wie in "Lolita" von dem Mann aus, sondern von der Frau. Es geht um die Liebe eines Mannes zu zwei Frauen, und um die Liebe als Spiel. Das Thema jedenfalls ist für die meisten Menschen interessant.

Ich-Perspektive aus zeitlichem Abstand

Die Geschichte ist aus der Ich-Perspektive des Mannes geschrieben, aus größerem zeitlichem Abstand ("...und ich weiß noch, ich war sehr wütend.", S. 66). Hermann benutzt deshalb das Imperfekt. Indem sie aus der Sicht des Mannes erzählt, entgeht J. Hermann der Gefahr der Larmoyanz und dem Eindruck, mit der Geschichte eigene Erfahrungen mit der Liebe zu verarbeiten.

Sonja

Der Charakter von Sonja ist unvergesslich. Dies liegt unter anderem an ihrer Sprache. Nur wenig von dem, was sie sagt, wird zitiert, aber dieses Wenige hat seinen eigenen Sound. Unter anderem formuliert sie Fragen oft wie Aussagen (z.B. "Soll ich warten.", S. 57). Und es liegt an der seltsamen Art, in der sie dem Maler nachstellt: planvoll, verbissen, zäh und dennoch nicht klammernd. Sonja hat irgendwann beschlossen, den Maler "haben zu wollen". (S. 58) Danach spielt sie ein Spiel mit ihm, kommt beim ersten Rendez-Vous eine halbe Stunde zu spät (S. 69), entzieht sich zeitweise monatelang, will ihn eifersüchtig machen durch andere Männer.

Der Ich-Erzähler: geschmeichelt...

Der Maler hinterlässt einen egozentrischen Eindruck. So interessieren ihn anfangs Verena und Sonja nur als Musen. In Bezug auf Verena heißt es: "...ich...hatte große Lust, nach Hause zu fahren und zu arbeiten, den Geruch von ihrem Haar an den Händen." (S. 56) Und als er sein erstes Date mit Sonja ausgemacht hat, ruft er Verena an, gesteht ihr seine Liebe und pfeift die Melodie von "Wild Thing". Das Spiel mit zwei Frauen gleichzeitig gefällt ihm offenbar. Von der Liebe Sonjas fühlt er sich geschmeichelt ("die ... mir ein eitles Gefühl von Wichtigkeit verlieh.", S. 68, und "nichts hätte mir ferner gelegen, als jetzt mit ihr zu schlafen, dennoch war ich beleidigt, als ich an ihren ruhigen und gleichmäßigen Atemzügen bemerkte, dass sie schon eingeschlafen war.", S 71, und "stolz auf Sonja, stolz auf die Zähigkeit, mit der sie sich mir entzog" S. 82). Einmal, als Sonja sich entzieht, hat er "eine fast größenwahnsinnige Lust, sie zu quälen" (S. 64)

...und schließlich in Angst

Doch irgendwann beginnt Sonja, sich in seinem Leben zu verhaken (S.67). Und als Sonja einmal von Heirat spricht, bekommt er Angst: "Ich glaube, ich hatte Angst vor Sonja,...[dieser] seltsamen Person, die nicht sprach, die nicht mit mir schlief..., von der ich kaum etwas wusste, die ich wohl liebte, letztendlich doch." (S. 79)

Eitelkeit

Der Maler läuft weg, heiratet Verena und präsentiert dann diese Neuigkeit auf beiläufige Weise, um zu sehen, wie Sonja an ihm hängt ("ich wollte Sonja die Fassung verlieren sehen, ich wollte, dass sie heulte und weiterschrie... Kein Ausbruch, kein unterdrücktes Weinen, Sonja rief mich nicht zurück.", S. 81)

Das Spiel

Sonja und der Maler spielen ein Spiel, das sich um Anhänglichkeit und Sich-selbst-Entziehen, um Liebe und Eifersucht dreht. Der Unterschied zwischen ihnen ist, dass Sonja es spielt, um den älteren Mann zu gewinnen, und der Maler, weil ihm die Liebe Sonjas schmeichelt. Letztendlich gewinnt Sonja: Der Maler liebt sie. Aber sie verliert ihn auch, weil er gleichzeitig Angst vor ihr bekommt, Angst davor, was hinter der undurchschaubaren Fassade steckt, die Sonja aufbaut.

Es bleibt offen, wie der Maler die Sonja-Affaire zu der Zeit beurteilt, als er die Geschichte erzählt. Möglicherweise bereut er, dass er das Spiel mit ihr gespielt hat, dass er sich nicht früher für oder gegen Sonja entschieden hat, dass er ihre Gefühle verletzt hat.

Aus Autorensicht

Die Geschichte beginnt nicht (kurzgeschichtentypisch) mitten im Geschehen, nicht mit der ersten Begegnung, sondern mit einer zusammenfassenden Charakterisierung Sonjas:

Sonja war biegsam. Ich meine nicht diese "biegsam wie eine Gerte", nicht körperlich. Sonja war biegsam - im Kopf. Es ist schwierig zu erklären. VIelleicht - dass sie mir jede Projektion erlaubte.

Diese fast auktoriale Einleitung ist nur aufgrund des zeitlichen Abstands zwischen erzählter Zeit und Erzählzeit möglich. Die Autorin hilft dem Leser, Sonja von vornherein einzuordnen. Sie nimmt ihm die Interpretation ab. Eigentlich ist das ein "Don't": Etwas über eine Person sagen, statt es zu zeigen. Jedenfalls ist es ein etwas altmodischer Ansatz. Es erzeugt Distanz, weil man das Geschehen nicht unmittelbar erlebt, sondern das Gefühl hat, man säße mit dem Ich-Erzähler in einem Raum, und der erzähle einem etwas.

Gefühle

In einer Geschichte rund um die Liebe ist die Behandlung von Gefühlen durch den Autor besonders prekär. Hier kann man sicher einiges falsch machen. Bei einer Ich-Geschichte liegt es nahe, die Gefühle des Erzählers in den Mittelpunkt zu rücken. Hermann lässt die Gefühle des Malers nicht unerwähnt: "die ich wohl liebte, letztendlich doch" (S. 79) Da die Geschichte aus zeitlicher Distanz geschrieben ist, kann der Erzähler über diese Gefühle nachdenken. Manchmal ist er sich nicht mehr ganz sicher ("...und ich weiß noch, ich war sehr wütend.", S. 66).

Die Gefühle Sonjas sind dem Ich-Erzähler naturgemäß nicht zugänglich. Aber die Beobachtungen des Malers zeigen viel davon. Ein Beispiel ist die Szene, als Sonja erfährt, dass der Ich-Erzähler eine Freundin hat: "Wir standen voreinander, starrten uns an. Ich fand sie taktlos. Ihre Mundwinkel begannen zu zittern, und ich hatte das Gefühl, dass irgend etwas völlig falsch lief." (S. 62)

Judith Hermann

Hermann, 1970 geboren, gehört zu den am meisten gerühmten deutschen Nachwuchsschriftstellern. Sie steht an der Spitze des viel zitierten "deutschen Fräuleinwunders", einer Anzahl jüngerer deutscher Frauen, die von den Feuilletons hoch gelobt wurden. Reich-Ranicki beispielsweise schreibt: "Wir haben eine neue Autorin bekommen, eine hervorragende Autorin. Ihr Erfolg wird groß sein." Inzwischen ist der Hype schon wieder etwas abgeebt. Der Kurzgeschichtenband "Sommerhaus, später" ist Hermanns erste literarische Publikation. Sie erhielt dafür mehrere Preise. Ihr zweiter Erzählband heißt "Nichts als Gespenster".

Bibliographisches

Letzte Änderung: Januar 2004

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