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Ingo Schulze: Neues Geld

- Inhaltsangabe und Interpretation -

Die Geschichte aus dem Erzählband "Simple Storys" gibt einer Hemingway-Story vor dem Hintergrund der Wiedervereinigung eine neue Bedeutung.

Inhaltsangabe

Die neunzehnjährige Conni Schubert arbeitet als Kellnerin im Hotel "Wenzel" in der ostthüringischen Kleinstadt Altenburg. Im Mai 1990, kurz vor der deutsch-deutschen Währungsunion, kommt der westdeutsche Geschäftsmann Harry Nelson ins Hotel. Er sucht Grundstücke für Tankstellen und wird Stammgast.

Conni ist fasziniert von der kultivierten Art Nelsons und verliebt sich in ihn. Am 2. Juli - man bezahlt nun mit D-Mark - taucht Nelson nach kurzer Abwesenheit wieder im Hotel auf. Mit dem Kölner Schallplattenvertreter Cziska trinkt er ein Glas Wein nach dem anderen. Als das Restaurant schließt, verschwinden die beiden, um im Stadtzentrum weiterzutrinken. Conni deckt die Tische für das Frühstück.

Um halb zwölf kommt Nelson zurück, nähert sich Conni, küsst sie und greift ihr an die Brust. Sie gehen zusammen hinaus. Bevor Conni klar wird, was geschieht, hat Nelson sie auf einem kleinen Rasenstück ausgezogen und schläft mit ihr. Er bleibt auf Conni liegen, lässt sich nur schwer zur Seite rollen. Sein Mund steht offen. "Du kannst hier nicht liegenbleiben", sagt Conni. Als er nicht reagiert, läuft sie davon.

Conni arbeitet nicht länger im "Wenzel", das Hotel schließt im Herbst 1990. Die Kellnerin findet erst später in Lübeck und dann auf einem Kreuzfahrtschiff wieder Arbeit. Conni Eltern haben ihre eigene Interpretation von Connis Geschichte, wie sie selbst sagt:

"Obwohl ich so naiv und blauäugig gewesen wäre, sagen sie, hätte ich bereits sehr früh - als sich die anderen noch Illusionen hingaben -, bereits da hätte ich gewusst, wie alles hier kommen würde. Und damit haben sie ja auch irgendwie recht."

Interpretation

In den 29 Geschichten aus Schulzes Zyklus "Simple Storys" geht es um Menschen aus der DDR, die in der Wendezeit nach 1989 das Zusammenstürzen der alten Ordnung und die Etablierung einer neuen erleben. Die einzelnen Geschichten hängen über ihre Protagonisten mehr oder weniger eng zusammen - der Zyklus wird vom Verlag als Roman bezeichnet. "Neues Geld", die zweite Geschichte daraus, ist jedoch auch ohne Kenntnis der anderen Storys zu verstehen.

Nacherzählung einer Story Hemingways

Schulze greift auf die Geschichte "Up in Michigan" von Hemingway zurück. Er erzählt diese "alte Geschichte" - so der Vorspann - neu: Ein finanziell potenter Fremder kommt in ein Provinznest und eignet sich nicht nur Häuser oder Grundstücke an, sondern auch gleich noch ein einheimisches Mädchen, das von ihm fasziniert ist. Die Geschichte endet in beiden Fällen mit einer halben Vergewaltigung durch den betrunkenen Fremden.

Neue Bedeutung vor neuem Hintergund

Schulze gibt der Geschichte eine neue Bedeutung, indem er sie vor dem Hintergrund der Wiedervereinigung der beiden deutschen Staaten spielen lässt. Der Titel "Neues Geld" und dass sich der Vorfall zur Zeit der Währungsunion ereignet, verdeutlich die wirtschaftliche Komponente des "Anschlusses". Die aus dem Westen kommenden Geschäftsleute stehen für die neuen Landesherren. Die Einheimischen kommen nur als Personal eines Hotels vor, die sie bedienen. Dabei werden die Wessis keineswegs als unsympathische Rohlinge geschildert. So wünscht sich Conni, den Adamsapfel Nelsons zu küssen - ein Hinweis auf die Versuchung, für die das biblische Symbol steht.

Das Hotel DDR

Das Hotel verkörpert in der Geschichte die DDR. Es schließt im Herbst 1990 - so wie am 3. Oktober des selben Jahres auch die DDR aufhört zu bestehen. Auch dass der Mann aus dem Westen den Namen des britischen Admirals Nelson trägt, ist wohl kein Zufall: Der Eroberer lernte seine Geliebte, Lady Hamilton, während der Kriege gegen das revolutionäre Frankreich kennen.

Kommentar der Eltern

Schulze verwendet den Kommentar von Connis Eltern gewissermaßen als Pointe: Connis halbe Vergewaltigung erscheint dadurch als Metapher für das Schicksal des ostdeutschen Staats. Sie mag den Mann aus dem Westen, wehrt sich nicht. "Wir haben also einander gefunden, einfach so, ohne große Worte, dachte ich."

Vorschnelle Vereinigung

Den Vorgang der "Vereinigung" hätte sich Conny wohl anders vorgestellt: Nelson ist offensichtlich betrunken - was Conni erst nach dem Beischlaf klar wird - und die Kellnerin wird sich kaum bewusst, was geschieht. Selbst danach hofft sie, am nächsten Tag Nelson als ihren "zukünftigen Mann, den Vater meiner vielen Kinder, der mit niemandem vergleichbar war, der mir die Welt zeigen und alles verstehen, der mich beschützen - und rächen würde."

Nüchterne Erzählung aus der Ich-Perspektive

Die Geschichte ist in Ich-Perspektive aus der Sicht der Kellnerin Conni geschrieben. Der nüchterne Erzählton ähnelt dem Hemingways. Schulze erzählt keine Alltagsgeschichte, sondern einen wichtigen Vorfall in Connis Leben vor dem Hintergrund eines wichtigen Vorfalls in der deutschen Geschichte. Die Story kulminiert in einer Art Pointe, der Erkenntnis, dass Conni bei ihrer halben Vergewaltigung das geschieht, was der DDR als ganzem Staat wenig später blüht.

Kunstgriff

In den letzten Sätzen der Geschichte wird dem Geschehen eine Bedeutung gegeben - aber nicht durch den Autor, sondern durch Connis Eltern, die diese zitiert. Die Deutung der Story anderen in den Mund zu legen, ist ein gekonnter handwerklicher Kunstgriff Schulzes.

Ingo Schulze

Der 1962 in Dresden geborene Schulze studierte klassische Philologie in Jena und arbeitete als Dramaturg an einem Theater in Altenburg. Sein erstes Buch, "33 Augenblicke des Glücks", verarbeitet Erlebnisse aus einem längeren Aufenthalt in Sankt Petersburg. Wie das zweite Buch, "Simple Storys", besteht es aus mehr oder weniger stark zusammenhängenden Kurzgeschichten.

Schulze orientiert sich an Hemingway und Raymond Carver und schreibt Kurzgeschichten, die deren Storys in Stil und Vorgehensweise stark ähneln. Er gehört zu den wichtigsten neueren Autoren der deutschen Short Story.

Bibliographisches

Letzte Änderung: Mai 2003

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