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Irene Dische: Mr. Lustgarten verliebt sich

- Inhaltsangabe und Interpretation -

Dische erzählt eine leichte, amüsante Geschichte und überrascht mit einer gelungenen Pointe.

Inhaltsangabe

Mr. Lustgarten, ein auf die Neunzig zugehender Intellektueller aus Europa, lebt alleine in einer großen Wohnung in New York. Seine reichen Söhne, die in Boston und New Haven leben, haben keine Lust, sich um ihn zu kümmern und bitten die katholischen Pfarrgemeinde in New York eine Haushälterin zu empfehlen, die für ihren Vater sorgen soll.

So engagieren die Söhne unbesehen die Polin Anna Kaminska, die bei Mr. Lustgarten ins Dienstmädchenzimmer einzieht. Mr. Lustgarten beobachtet, wie sie seinen etwas chaotischen Haushalt auf Trab bringt. Da sie ihm keine allzugroßen Veränderungen aufzwingt, akzeptiert er es "als Äußerungsform weiblicher Metaphysik". Er fühlt sich von ihr umsorgt wie von seiner verstorbenen Frau und genießt es, wenn sie ihn aus der Küche, ihrem Herrschaftsbereich als Frau, verjagt. Allmählich verliebt er sich in Anna und denkt an Goethe, der sich noch im hohen Alter in eine junge Frau verliebte.

Als seine Söhne sich telefonisch bei ihm erkundigen, wie es ihm gehe, und Näheres über das Dienstmädchen erfahren wollen, sagt er, seine Freundin Anna sei jung, 19 oder 20 und hübsch. Ihre Besorgnis, er könnte eine "Liaison" mit ihr haben, nimmt er amüsiert zur Kenntnis, streitet es aber ab. Mit der Zeit wird Mr. Lustgarten eifersüchtig. Er versucht, herauszufinden, was Anna macht, wenn sie nicht bei ihm ist, befürchtet, sie könnte sich mit einem anderen Mann treffen.

Wenn seine Söhne ihn anrufen, antwortet er immer missgelaunter auf ihre Fragen: "Ja, ja, sie quält mich fürchertlich." Die Söhne machen sich Sorgen und organisieren schließlich einen gemeinsamen Überraschungsbesuch bei ihrem Vater. Sie klingeln in banger Erwartung, und es öffnet ihnen - eine etwa fünfzigjährige Frau, korpulent, mit einem Rosenkranz in den Händen: Anna Kaminska. Mr. Lustgartens Kinder sind beschämt und ärgern sich ein wenig über ihren Vater. Sie erhöhen das Gehalt von Anna, laden ihren Vater zu seinem 90sten Geburtstag zum Diner ein und platzieren Anna zu seiner Rechten, wie eine Braut.

Interpretation

Irene Dische gehört neben Maxim Biller, Robert Schindel und Rafael Seligmann zu einer Generation deutsch-jüdischer Autoren, die ihre doppelte Identität literarisch reflektieren.

Die Geschichte "Mr. Lustgarten verliebt sich" ist jedoch keine schwierige Geschichte über Juden und Deutsche, sondern eine amüsante, leicht les- und verdaubare Geschichte. Sie spielt mit dem Begriff "Dienstmädchen": Mr. Lustgarten - sein Name erinnert an Lustgreis - schildert Anna als junges Mädchen, und seine Söhne glauben ihm, reden untereinander von "dem polnischen Mädchen", das ihren Vater möglicherweise verführt und so ihren eigenen Erbanspruch schmälern könnte. Der Leser glaubt diesem Mr. Lustgarten ebenso, assoziiert mit "Dienstmädchen" eben eine junge Frau.

Bevor Anna da war, haben sich die Herren Söhne um einen Besuch immer wieder gedrückt und das Wetter als Vorwand benutzt ("im Schnee", "bei der Hitze"). Jetzt, wo sie sich Sorgen um das Erbe machen, rufen sie bei ihm häufig, "meist am Sonntagmorgen an (Billigtarif)" und kommen schließlich sogar in "drei vollklimatisierten viertürigen Limousinen" und in großer Panik zu Besuch nach New York. Doch plötzlich erkennen sie: Anna ist keineswegs ein Mädchen, sondern eine ältere, verheiratete Frau, deren Mann in Polen lebt. Als gute Katholikin ist sie keine Gefahr mehr, man kann sie sogar "Mama" nennen.

Auch wenn die Begriffe "jüdisch" oder "Judentum" nicht vorkommen, geht es in der Geschichte auch um das Judentum. Aus dem Namen Lustgarten, aus der Biographie der Titelperson kann man vermuten, dass der alte Mr. Lustgarten ein emigrierter deutsch-österreichischer Jude ist. Der Autorin jüdischer Herkunft wird man die ironisch-humorvolle Schilderung der habgierigen Söhne von Mr. Lustgarten nicht übelnehmen können.

An der Geschichte überzeugt unter anderem die gekonnte Charakterisierung der Personen. Anna mit ihren bunten Nylonröcken, ihrer altmodischen Frisur, ihrem Katholizismus ist eine Polin, wie sie im Buche steht. Wer Polinnen kennt, weiß, dass sie wirklich nur Hosen anhaben, wenn sie unter 25 sind, dass sie die Küche als ihren Herrschaftsbereich ansehen, dass sie sehr bestimmt sein können, wenn es um Ordnung geht.

Auch Mr. Lustgartens Psyche wird beschrieben: Seine junggesellenhafte Lebensweise - sein Bett steht im Esszimmer, er hortet Papiertüten für Notzeiten, isst mit Plastikbesteck, das er jahrelang gewissenhaft bei McDonald's mitgehen ließ -, die auf Annas Ordnungssinn trifft. Seine Angst, Bekannte wegen seines schlechten Personengedächtnisses nicht zu erkennen, und wie er deswegen nicht an die Wohnungstür geht, wenn er nicht weiß, wer draußen steht. Wie er die Angst seiner Söhne, er könnte sich in Anna verlieben, als Vitalitätsbeweis betrachtet, wie er durch seine Liebe, seine Eifersucht selbst zeigt, wozu er noch in der Lage ist.

Fazit: "Mr. Lustgarten verliebt sich" ist leicht und humorvoll geschrieben, überrascht den Leser mit einer gelungenen Pointe und bringt glaubwürdige, interessante Charaktere.

Irene Dische

Die 1952 in New York geborene jüdischstämmige Autorin lebt seit Anfang der achtziger Jahre mit einem Touristenvisum in Berlin und schreibt ihre oft um die Probleme des Judentums kreisenden Geschichten in Englisch.

Der Kurzgeschichtenband "Fromme Lügen" (1989) war ihr erfolgreiches Debüt. Sie erzählt darin, als wäre es das leichteste von der Welt. Fünf Geschichten aus der Sammlung gibt es für rund einen Euro als kleines Bändchen in der Reihe "50 Jahre Rowohlts Rotationsromane".

Bibliographisches

Letzte Änderung: Januar 2003

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