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Ingeborg Bachmann: Das dreißigste Jahr

- Inhaltsangabe und Interpretation -

Ingeborg Bachmann gehört schon fast zu den Klassikern der deutschen Literatur. Die metaphernreiche Prosa einer ihrer Erzählungen ist ein Leitstern.

Vielleicht war das alles nötig damals. Borchert, Böll, Langgässer und so. Trümmerliteratur, spröde Prosa ohne Bilder, und moralisch oft durchsichtig bis aufs Skelett. Vergangenheitsbewältigung. Vielleicht war das das beste für die Nachkriegszeit. Und dann für uns 16- oder 17-Jährige im Deutschunterricht. Aber irgendwann merkt man, dass es noch anderes gibt, eine Literatur nämlich, für die Sprache mehr ist als Briefträgerin für Botschaften. Zum Beispiel die Prosa von Ingeborg Bachmann.

Inhaltsangabe

Es ist ein bisschen barbarisch, eine Erzählung wie "Das dreißigste Jahr" einfach zusammenzufassen und damit diese sprachbetonte Prosa auf den Inhalt zunächst auf puren Inhalt zu reduzieren. Lassen wir also den Anfang für sich selbst sprechen:

Wenn einer in sein dreißigstes Jahr geht, wird man nicht aufhören, ihn jung zu nennen. Er selber aber, obgleich er keine Veränderungen an sich entdecken kann, wird unsicher; ihm ist, als stünde es ihm nicht mehr zu, sich für jung auszugeben. Und eines Morgens wacht er auf, an einem Tag, den er vergessen wird, und liegt plötzlich da, ohne sich erheben zu können, getroffen von harten Lichtstrahlen und entblößt jeder Waffe und jeden Muts für den neuen Tag. Wenn er die Augen schließt, um sich zu schützen, sinkt er zurück und treibt ab in eine Ohnmacht, mitsamt jedem gelebten Augenblick. Er sinkt und sinkt, und der Schrei wird nicht laut (auch er ihm genommen, alles ihm genommen!), und er stürzt nicht hinunter ins Bodenlose, bis ihm die Sinne schwinden, bis alles aufgelöst, ausgelöscht und vernichtet ist, was er zu sein glaubte. Wenn er das Bewusstsein wieder gewinnt, (...), entdeckt er eine wundersame neue Fähigkeit. Die Fähigkeit, sich zu erinnern. Er erinnert sich nicht wie bisher (...) an dies oder jenes, sondern mit einem schmerzhaften Zwang an alle seine Jahre, flächige und tiefe (...) Er wirft das Netz Erinnerung aus, wirft es über sich und zieht sich selbst, Erbeuter und Beute in einem, über die Ortsschwelle, über die Zeitschwelle, um zu sehen, wer er war und wer er geworden ist.

Man kann das natürlich auch viel kürzer ausdrücken. Zum Beispiel so: Wenn einer dreißig wird, fängt er an, sein Leben zu rekapitulieren, als wollte er eine Biografie schreiben. Ein bisschen weitschweifig ist diese Prosa also. Aber auch ziemlich bildhaft: Die harten Lichtstrahlen, die Waffe, die flächigen und tiefen Jahre...

Abstrakter Protagonist

Was zunächst abstrakt bleibt, ist der Protagonist: Dieser "eine", dieser "er" ist und bleibt namenlos. Nur allmählich nimmt er feste Konturen an. Die Erzählung setzt ein mit der Zeit kurz nach seinem neunundzwanzigsten Geburtstag und reicht bis kurz vor dem dreißigsten Geburtstag, von Juni bis Juni. Der Protagonist erwacht eines Tages und beginnt, auf sein Leben als Ganzes zurückzuschauen. Bisher, so denkt er sich, hat er alles mögliche in seinem Leben getan, ohne sich auf das zu besinnen, was er im Leben wirklich tun wollte.

Juli: Die Menschen wechseln

Im Juli befällt ihn eine Unruhe. Er möchte "die Menschen wechseln", denn "man geht, sowie man eine Zeitlang an einem Ort ist, in zu vielen Gestalten, Gerüchtgestalten um." Er reist nach Rom, um den aufgedrängten Rollen zu entgehen. Aber in Rom trifft er "auf die Gestalt, die er dort zurückgelassen hat. Sie wird ihm aufgezwungen wie eine Zwangsjacke. Er tobt, wehrt sich, schlägt um sich, bis er begreift und stiller wird." Er trifft seinen alten Freund Moll wieder, doch dieser Moll scheint ihn inzwischen in Verruf gebracht zu haben, und "er wird inne, dass die Gemeinheit möglich ist und dass sie ihn erreichen kann." Er trifft auch Elena wieder, vor Jahren seine Geliebte, die er damals betrogen hat und die sich wütend dafür gerächt hat. Jetzt ist sie verheiratet und zur Freundschaft bereit. Sie hat ein Kind, und aus dessen Alter schließt er, dass sie damals, als sie ihn glauben hat lassen, dass er sie allein gelassen hätte, dass sie selbst damals schon einen anderen gehabt hatte. Es wird ihm bewusst, "dass die Menschen sich an einem vergingen, dass man selbst sich auch an ihnen verging." Der eine kränkt den anderen. Und dass sich alle vor dem Tod fürchten ist eigentlich seltsam, denn er ist es, in den sie sich retten können vor der ungeheuerlichen Kränkung, die das Leben ist."

August: Hastiges Leben

Im August packt ihn der Sommer, er pendelt hin und her zwischen der Stadt Rom und dem Meeresstrand, beobachtet Paare, verliebt sich in Frauen, "in eine Milliarde Frauen", lebt hastig. In der Angst vor dem Herbst.

September: Das Aufgehen fremder Samen

Im September wird ihm klar, dass sich sein Denken aus den Gedanken anderer speist: "Nichts anderes ist jeder Gedanke als das Aufgehen fremder Samen." Das gleiche gilt für die Mitmenschen: Ich wollte, ich könnte all denen, die an ihre einzigartigen Köpfe und an die harte Währung ihrer Gedanken glauben, zurufen: Seid guten Glaubens! Aber sie sind außer Kurs gesetzt, diese Münzen, mit denen ihr klimpert, ihr wisst es nur noch nicht." Der Zorn auf diese Menschheit packt ihn, er überlegt, ob sie sich nicht selbst ein Ende setzen sollte.

Oktober: Einen Baum pflanzen, ein Kind zeugen...

Im Oktober schläft er immer länger, schläft "sich Kraft zusammen", gewöhnt sich Rituale an, bricht persönliche Kontakte ab, "gab seine Hoffnungen auf und wurde einfacher von Tag zu Tag", überlegt, sich eine Frau zu suchen und ein Stück Land. "Er suchte nach einer Pflicht, wer wollte dienen. Einen Baum pflanzen, ein Kind zeugen." Er erinnert sich an einen Tag in der Bibliothek, als er das Gefühl hatte, beim Denken auf einer Schaukel höher und höher zu fliegen, "ohne Schwindelgefühl, und als er sich den herrlichsten Schwung gab, da fühlte er sich gegen eine Decke fliegen (...) Da geschah es. Da traf und rührte ihn ein Schlag, inwendig im Kopf; ein Schmerz entstand, der ihn ablassen hieß, er verlangsamte sein Denken, verwirrte sich und sprang von der Schaukel ab." Im Winter desselben Jahres war er mit Leni in die Berge gefahren und hatte sie betrogen, mit zwei blonden Skifahrerinnen. Leni war abgereist, er hatte sie nie wieder gesehen, hatte sich schuldig gefühlt und versucht, sie zu vergessen.

Winter: Sich wie eine Wurzel in die Erde verkriechen

Der Winter kommt, November und Dezember. "Er möchte sich wie eine Zwiebel, wie eine Wurzel unter die Erde verkriechen, wo sie warm geblieben ist." Aber plötzlich kommt eine Frau ins Spiel, er ist nicht mehr Herr seiner selbst. Nach zwei Wochen unerträglicher Liebe flieht er, reist ab nach Brindisi, aber das Geld geht ihm aus, und schließlich schreibt er seinem Vater, bittet um Geld. Der hilft ihm umgehend, und er fährt nach Wien zurück. Er nimmt sich ein Hotelzimmer und scheut sich, seine Bekannten anzurufen, weil sein Wegsein ihm als Verrat ausgelegt würde. Dann aber trifft er doch die alten Freunde wieder. Moll ist inzwischen Mitglied der High Society geworden, rät ihm "Steig bei uns ein." Ein wenig später am selben Tag trifft er Moll wieder, in einem Kaffeehaus. Diesmal erscheint er ihm als Bildungsbürger, der sich mit Kulturgut schmückt. Auch am nächsten Tag trifft er Moll wieder, den Weißt-du-noch-Moll. Moll erscheint ihm als Hydra: Wenn man einen Kopf abschlägt, wachsen zehn andere nach.

Er trifft Helena wieder, die er früher einmal ohne Erfolg umworben hat. Er trinkt in ihrer Wohnung mit ihr Kaffee, es wird spät, er verabschiedet sich mit einer unehrlichen Umarmung, kehrt im Morgengrauen ins Hotel zurück. Er schläft bis zum Abend und packt seine Koffer.

Ob man sich ohne Schaden für sich selber halten könne

Der Zug lässt ihn mitten in der Nacht auf einem Provinzbahnhof stranden; nur mit Mühe hält er sich warm. Auf der Weiterreise am nächsten Morgen erzählt im ein Mitreisender, ein Psychiater offenbar, wie viel Prozent aller Irren sich für Napoleon, Hitler oder Gandhi halten, und er fragt, "ob man sich denn ohne Schaden für sich selber halten könne oder ob das nicht auch Irrsinn sei." Später ist er in einem Abteil mit zehn anderen, es ist eng, jeder kämpft um ein bisschen Platz, und plötzlich entdeckt er sich "dabei, wie auch er mit seinem Ellenbogen sich ausbreitete, um die Frau mit dem Kind zurückzudrängen." Er denkt an Wien, eine Stadt, die mit vielen Attributen belegt wird: die Stadt ohne Gewähr, die Strandgutstadt, die Endstadt, die Schweigestadt, die Stadt der Speichellecker. Er flieht nach Rom und will weiter nach Indonesien, aber als er sich ein Ticket besorgen will, bricht dort Krieg aus. Er bleibt in Rom, bei der Frau, die er im Herbst so geliebt hat. Er ist unglücklich, will verschwinden und auch wieder nicht. "Wie alle Geschöpfe kommt er zu keinem Ergebnis." Er möchte nicht kleben wie irgendeiner und nicht wie ein besonderer. Er lebt in Widersprüchen, ohne sich entscheiden zu wollen, er liebt die Freiheit und er liebt sie nicht. Darüber wird es Frühling.

Frühling: Der Unfall

Er schreibt einen Brief, kündigt an, dass er eine Arbeit annimmt, und reist ab, um die Stelle anzutreten. Aber er nimmt umständliche Umwege. In Genua schickt er seine Koffer voraus und geht zu Fuß weiter. Als er müde wird, lässt er sich als Anhalter mitnehmen. Der Fahrer hat es eilig, und so kommt es zum Unfall. Als er wieder zu Bewusstsein kommt, ist er im Krankenhaus. Man will ihn operieren. Er hat Angst, nicht mehr aus der Narkose zu erwachen, will deshalb noch seinen Eltern schreiben, seiner Geliebten. Aber es fällt ihm nichts ein, er gibt es auf.

Mai: Das weiße Haar

Es ist Mai, und er liegt im Krankenhaus. Früher hatte er sich einen frühen Tod gewünscht, jetzt aber wünscht er sich das Leben. Als er kurz vor seiner Entlassung in den Spiegel sieht, entdeckt er ein weißes Haar. Zuerst ist er schockiert, aber dann beruhigt er sich. Der erste Beweis seines Alterns hat ihm einen Vorgeschmack gegeben, damit er nie wieder Furcht empfinde vor dem Prozess, der ihm "leibhaftig gemacht wird." Bald wird er dreißig Jahre alt sein. Er ist lebhaft mit dem Kommenden befasst", und wünscht sich, schon bald aus dem Krankenhaus herauszukommen, "weg von den Verunglückten, den Hinfälligen und Moribunden."

Interpretation

Bachmann schildert in ihrer recht langen Erzählung die Krisen eines namenlosen, männlichen Protagonisten, von seinem neunundzwanzigsten bis zum dreißigsten Geburtstag. Obwohl es darin durchaus Handlung gibt, steht sie eher am Rande, wird in kurzen Sätzen abgetan. Bachmann interessiert sich vor allem für das seelische Geschehen, das sie sprachmächtig schildert.

Der größte Teil der Erzählung ist in personaler Erzählhaltung geschrieben, aber ab und zu gibt es Passagen, wo der Protagonist in Ich-Perspektive seine Gedanken wiedergibt, in einer Art Innerem Monolog. Aber auch die personale Erzählhaltung ist bei Bachmann ziemlich unpersönlich. Sie beginnt mit Konditionalsätzen: Wenn einer in sein dreißigstes Jahr geht... Das hört sich eher an wie eine theoretische Überlegung als wie wirklich Geschehenes. Mit dieser distanzierten Art, eine Geschichte zu erzählen, rückt Bachmann ihre Geschichte deutlich ab von traditionellen Erzählmustern, die der äußeren Handlung folgen, die feststehende Charaktere haben.

Keine feststehenden Charaktere

Denn die gibt es in dieser Erzählung nicht. Der Protagonist selbst ist und bleibt namenlos. Auch sein Aussehen, seine Ausbildung wird nicht geschildert. Neben ihm gibt es den alten Freund Moll, wobei nicht ganz klar wird, ob es sich tatsächlich nur um eine Person oder um mehrere handelt, die alle zum "System Moll", zur Hydra gehören. Außerdem spielen die Frauen eine wichtige Rolle, aber auch sie sind keine Individuen, sondern Fälle desselben Problems. Das wird an ihren Namen deutlich: Sie heißen Elena, Leni und Helena. Alle sind sie nicht mehr als Verkörperungen der Weiblichkeit.

Der Protagonist denkt in seinem dreißigsten Jahr über sein Leben nach, und gerät dabei in eine Krise. Durch Reisen versucht er seinen Problemen zu entkommen. Aber es handelt sich um eine Identitätskrise: Dem Protagonisten ist nicht klar, was er im Leben sein und erreichen will. Seine Rollen reichen ihm nicht mehr, er will zu seinem eigentlichen Ich vorstoßen. Dazu versucht er immer wieder, alle Kontakte abzubrechen, weil er sich eingeengt fühlt. Und doch sucht er immer wieder die Gesellschaft von Menschen, besonders die von Frauen. In diesem Widerspruch verheddert sich der Protagonist: "Wie alle Geschöpfe kommt er zu keinem Ergebnis."

Erst durch den lebensbedrohlichen Unfall bahnt sich eine Lösung an: Er gibt ihm seinen Lebenswillen zurück. Vor der Operation schließt er durch die begonnenen Abschiedsbriefe mit seinem bisherigen Leben ab. Nach der OP erlebt er so etwas wie eine Wiedergeburt. Die Erzählung schließt nach vielen Seiten schwärzester Depression mit einem Happy End und dem emphatischen Ausruf: "Steh auf, dir ist kein Knochen gebrochen."

Aus Autorensicht

Probleme mit der Identitätsfindung sind nichts Neues in der Literatur, im Gegenteil: Gerade Anfänger schreiben solche Lebensbeichten. Das Besondere an Bachmanns Text ist die Sprache. Sie schreibt sehr bild- und metaphernreich, bemüht sich um neue Wortverbindungen. Das gibt dem Text einen starken Reiz. Mir gefällt auch, dass sie das Erzähltempo sehr stark variiert: Manchmal werden seitenlang nur Gedankengänge wiedergegeben, dann folgen wieder stark raffende Handlungszusammenfassungen. Weniger angetan bin ich von dem Pathos, das relativ oft hervorbricht. Insgesamt hat mich als Bachmann-Neuling überrascht, dass ihre Texte durchaus nicht so intellektuell abgehoben und unverständlich sind, wie ich dachte. Neben der besprochenen Erzählung ist die Geschichte "Ein Wildermuth" zu empfehlen – hier wird es stellenweise sogar wirklich witzig.

Ingeborg Bachmann

Die in Klagenfurt geborene Bachmann (1926-1973) wuchs in Kärnten auf, studierte Philosophie und promovierte über Heidegger. Später lebte sie mehrere Jahre in Rom und hatte eine Beziehung mit Max Frisch. Ihre Texte – Lyrik, Prosa, Essays – veröffentlichte sie ab 1946. Sie war Mitglied der Gruppe 47 und erhielt den Georg-Büchner-Preis. 1973 starb sie an den Folgen eines Feuerunfalls.

Bibliographisches

Letzte Änderung: Juni 2005

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