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Peter Glaser: Geschichte von nichts

- Inhaltsangabe und Interpretation -

Glaser bekam beim Klagenfurter Literaturwettbewerb 2002 den ersten Preis für diese Geschichte, in der es um den Abschied von geliebten Menschen geht, um das Nichts, und um eine Poetik des Nichts.

Inhaltsangabe

Zusammen mit Henri, dem Bruder seiner Geliebten Stella, arbeitet der Ich-Erzähler seit einigen Tagen für einen Mann namens Schwetz in Kairo. Schwetz betreibt Forschungen an den Pyramiden von Giseh. Der Erzähler kennt Kairo von Besuchen bei seiner Tante Nelly und ihrem verstorbenen Mann Leonard. Und er kennt ein paar Leute in Kairo, die für Schwetz von Nutzen sind. So wie Shirakawa, der eine Apparatur zur Untersuchung der Pyramiden zur Verfügung stellt.

Schon bei seiner Ankunft hat der Erzähler erfahren, dass Tante Nelly verschwunden ist. Durch Nachforschungen Wahids, einem ehemaligen Angestellten von Onkel Leonard, ergibt sich, dass die 84-jährige Nelly nach Athen abgereist ist.

Der Erzähler lässt bei einem Goldschmied eine Perlenfassung herstellen und übergibt sie als Geschenk an Shirakawa. Der vermittelt ihm dafür einen Kontakt in Athen. Um seine Tante wiederzufinden, folgt ihr der Erzähler nach Athen, wo er erfährt, dass sie nach Patras und dem Peloponnes gefahren ist und dann nach Italien. Henri ruft an und erzählt ihm, dass das Welthandelszentrum eingestürzt ist. Der Erzähler folgt Nelly nach Italien, aber ihre Spur verliert sich; der Erzähler gibt auf und fliegt in seine Heimatstadt Hamburg zu Stella.

Nach seiner Ankunft wird der Erzähler grundlos von einem Verrückten zusammengeschlagen. Stella findet ihn. Sie fahren in die gemeinsame Wohnung und schlafen miteinander. Der Erzähler jobbt nun als Vertreter von Henri, der länger als erwartet in Ägypten bleibt, als Autor einer Fernseh-Comedy. Jeden Tag arbeitet er im Verlagsgebäude gemeinsam mit einem anderen Autor namens Roland an den Texten.

Eines Tages ruft Stella an: Nelly liege in Hamburg im Krankenhaus, es gehe ihr nicht gut. Der Erzähler besucht sie; er erfährt, dass sie von Ägypten einfach nach Hause gefahren war, in die Stadt ihrer Kindheit. Am Tag arbeitet der Erzähler, die Nächte verbringt er an Nellys Bett. Dann stirbt die alte Frau. Am Tag nach ihrer Einäscherung ist die Comedy-Arbeit beendet. Er gibt das Geld Stella.

Dann kommt Henri zurück. Sie verbringen den Abend gemeinsam. Der Erzähler erfährt, dass Stella das Geld von ihm Schwetz gegeben hat, mit dem sie früher einmal zusammengewesen war. Er ist überrascht und betrinkt sich mit Henri. Auf der Heimfahrt lernt er einen Taxifahrer kennen, der im Bosnienkrieg alles verloren hat. Das Schiebedach ist offen, und dem Ich-Erzähler kommt es so vor, als wäre die Erde ein Cabrio, mit dem er durch die Kälte des Weltraums führe.

Interpretation

"Panoptikum"

Die Geschichte erscheint auf den ersten Blick als eine Fülle von Details, deren Bedeutung sich beim ersten Hören oder Lesen noch nicht erschließt. Das Geschehen, der Zusammenhang der Personen untereinander, die Vielzahl der Orte verwirrt auf den ersten Blick. Man hat den Eindruck eines "Panoptikums", wie die Juroren in Klagenfurt sagten, das Vieles ins Licht stellt, was kurz darauf wieder aus dem Blickfeld gerät.

Über das Nichts oder über nichts?

Worum geht es also? Wenn man dem Titel glaubt, geht es in der Geschichte um nichts. Oder das Nichts? Beides. Es geht einerseits darum, dass man wie Tante Nelly aus dem Fenster den Leuten auf der Straße zusehen und darürber eine Geschichte schreiben kann, eine Geschichte über (scheinbar) nichts. Andererseits belegen Sätze wie "Das Nichts ist das Glück", dass es auch um das Nichts geht.

Der Tod Tante Nellys

Das antreibende und entscheidende Geschehnis im Text ist das Verschwinden und dann der Tod eines geliebten Menschen. Der namenlose Ich-Erzähler muss mit dem Tod von Tante Nelly zurecht kommen. Nelly verschwindet, stirbt, löst sich im Krematorium in nichts auf. Dazu passt die Jahreszeit: Herbst, die Zeit, in der die Wärme der Sonne geringer wird, die Zeit des Abschieds vom Sommer.

Der Stein

Das Nichts, die existenzielle Sinnlosigkeit des Lebens, begegnet dem Erzähler - in Anspielung auf den Sisyphus von Camus - auch in Form eines Steins: Dieser wird in einem Steinbruch bei Giseh mühsam auf ein Gerüst gehoben und dann auf eine Halde geworfen, von wo er ungefähr zu seinem ursprünglichen Ort zurückrollt. An diese Beobachtung erinnert er sich, als er erfährt, dass das Geld, für das er die ganze Zeit jobbt, um es Stella geben zu können, schließlich zu Schwetz zurückkehrt, seinem Arbeitgeber in Ägypten, von dem es auch gekommen ist. Der Satz wird wiederholt:

Dann sagte er, dass Stella das Geld von mir Schwetz gegeben habe, und dass sie früher mit ihm zusammen gewesen sei.
Der Stein rollte mit dumpfen Aufschlägen abwärts, bis er ungefähr dort zu liegen kam, wo der Mann am Fuß des Gerüsts ihn aufgenommen hatte.
Hinausgehalten ins kalte All

Der Hinweis auf Camus ist deutlich. Auch eine Verbindungslinie zu Heidegger lässt sich ziehen, auch wenn das vielleicht eine Überinterpretation ist: Nach Heidegger ist der Mensch hinausgehalten ins Nichts. (Man vergleiche den Schlusssatz: "unser Haar wehte hinaus in die kalte Weite des Weltraums".) Die Beschäftigung mit dem Tod, dem Übergang ins Nichts, gibt dem Leben erst Bedeutung und Dringlichkeit. Ohne den Tod würden wir ins Uneigentliche abgleiten, vielleicht in die Sphäre der Witzeleien, doch dazu später.

Es gibt nicht nichts

Die Geschichte beschäftigt sich jedenfalls wie der Existenzialismus intensiv mit dem Nichts. Stella sieht sich die geschwollene Lippe des Protagonisten an und sagt: "Da ist irgendwas." Der Erzähler antwortet - ein wenig unrealistisch - auf philosophische Weise: "'Da isch überall etwasch', sagte ich und ließ meine Oberlippe los. 'Das ist das Schöne an der Realität.'" Die Einsicht, dass es das Nichts nicht gibt, ist das Zentrale der Geschichte.

Stella und die kalte Weite des Weltraums

Am Ende der Geschichte kommt das Nichts in Gestalt des "kalten Weite des Weltraums" vor, durch den die Erde fliegt. Wir sind hinausgehalten ins Nichts. Dazu passt der Name der Geliebten: Stella, lateinisch für Stern. Stella ist für den Erzähler ein Fixpunkt in der Leere. Als Zeichen ihrer Liebe senden sich der Erzähler und Stella Leerzeichen per SMS-Kurzmitteilung: Zwei hin, drei zurück. Ergibt zusammen fünf, soviel Buchstaben wie das Wort Liebe hat. Zufall? Kein Zufall ist es jedenfalls, dass sie sich Leerzeichen senden. Warum Leerzeichen? Weil sich beide Menschen der Leere des Lebens bewusst sind, der sie ihre Liebe entgegenstellen? Das Bild bleibt etwas rätselhaft.

Schwingungen im Glas

Die Beziehung zu Stella ist gefährdet: "Wir begannen spielerisch zu streiten, dann ernster. Man darf Kristallglas nicht zum Klingen bringen, es speichert die Schwingungen in seiner Struktur. Noch Monate später kann das ganze Gebilde durch einen leichten Stoß zerbrechen." Hier wird das Glas als Bild für die Beziehung benutzt. Es ist ein zerbrechliches Gebilde; schon ein kleiner Streit kann Monate später das Ende der Beziehung bedeuten.

Stern erloschen?

Am Ende der Geschichte erfährt der Erzähler, dass Stella ihrem Ex-Lover sein mühsam erarbeitetes Geld gibt. Vielleicht das Ende der Beziehung? Zumindest eine Gefährdung, denn der Erzähler betrinkt sich danach. Und ist es Zufall, dass der Erzähler nach der schockierenden Nachricht im Taxi ein Gefühl der Leere hat? Ist der Stern für ihn nun erloschen?

Poetik mittransportiert

Nelly beobachtete früher sehr oft aus dem Fenster die Leute auf der Straße. Als Kind verstand der Erzähler nicht, was daran interessant war, jetzt versteht er es. Es passiert nichts Wesentliches auf der Straße, man beobachtet Nichtigkeiten. Aber auch dieses Nichts ist interessant. Alles hat eine Bedeutung, und so lässt sich auch über das (scheinbare) Nichts eine Geschichte schreiben. Insofern trägt die Geschichte ihre Poetik in sich.

Slice-of-life-Geschichte

Die Geschichte ist eine typische slice-of-life-Geschichte. Frühe Kurzgeschichten wie die von O. Henry oder auch späte Nachfahren wie die Storys von Dahl, sind Plot-Geschichten, in denen etwas Besonderes geschieht, eine spannende Handlung auf eine Pointe zuläuft. Diese Form wurde vielfach kritisiert. "There are no plot stories in life", schrieb Sherwood Anderson. Die meisten neueren Geschichten schreiben deshalb einem alltäglichen Vorkommnis eine Bedeutung zu. So kann man Glasers Geschichte auch als Plädoyer für diese Form verstehen.

Nichtigkeiten

Funktioniert das, eine Geschichte über nichts zu schreiben? Glaser berichtet über eine Menge Nichtigkeiten. Meistens sind es dumme Witze: ein Bevollmächtigter einer Firma für Haarteile. Ein Schwein, das glaubt, ein Pferd zu sein. Wahid, der einen blauen Wecker um den Hals trägt und einen orangefarbenen Pudel versorgt. Der Ich-Erzähler, der einem Touristen in Ägypten sagt, er wäre Finne und ihm wäre nicht kalt genug. Araber, die von rechts nach links sprechen, Verballhornungen wie "Klappsoda", "Sofa Water", das Universum ist wie Liz Taylor; unergründlich, und es dehnt sich aus. Diese Witzeleien stehen in krassem Gegensatz zu der Thematik des Tods, des Abschieds. Tagsüber schreibt die Hauptperson Witze, nachts wacht er trauernd bei Tante Nelly. Er hält den Spagat aus.

Verbotenes Lachen

Nicht zufällig beginnt Glaser seinen Text mit einem Lachen: "Ich wachte von meinem eigenen Lachen auf und konnte damit eine ganze Weile nicht aufhören, obwohl ich vom ersten Augenblick an nicht mehr wußte, weshalb ich lachte." Man kann auch über nichts lachen: "Es funktioniert auch, wenn, wie zumeist, was gesagt wird, gar nicht komisch ist."

11. September

Es geht in der Geschichte auch um das Lachen, das Lachen im Angesicht des Schrecklichen, des Todes, des Nichts. Der 11. September wird zweimal erwähnt, die Geschichte spielt nicht zufällig in dieser Zeit. Die Aufforderung eines Verrückten in Hamburg, zu politisieren, etwas gegen den Nahostkonklikt zu unternehmen, befolgt der Ich-Erzähler nicht. Er schreibt Texte für eine Comedy-Sendung. Eine Nebenperson meint dazu, man sollte kurz nach dem 11. September keine Witze machen. Man muss vielleicht an Jorge denken, den blinden Mönch aus Ecos Namen der Rose, der das Lachen verbieten will. Und der das verschollene Poetik-Buch des Aristoteles versteckt, worin das Lachen gepriesen wird. Ist also nach dem 11. September lachen verboten?

Witze

Mit dem Komödienschreiben leistet die Hauptperson "Humorarbeit" statt Trauerarbeit, leistet Beihilfe zum Verstoß gegen das Lachverbot. Das Komödienschreiben ist allerdings nicht schwer, denn das Prinzip lässt sich schnell erklären: Ein glücklicher Tag ist für die Menschen ein Tag, an dem nichts passiert. Also denkt man sich etwas aus, das passiert. "Das Nichts ist das Glück; man bezahlte uns, es zu stören." Das ist das Grundgesetz der Spannungserzeugung: Man stellt als Autor seinen Figuren etwas in den Weg. Doch wie es der Ich-Erzähler verwendet, ist es ein simples Patentrezept. Er befolgt es, aber nur, weil es Geld einbringt. "Geld gehört sich nicht", heißt es mehrfach, aber er braucht es für Stella. Dass er als Autor auch anders kann, zeigt sein poetischer Brief an Stella.

Lachen vor Freude

Glaser versucht in seiner Geschichte, vom Nichts oder von nichts zu erzählen. Er will keine "Witze" machen, keine schlechte Literatur, die auf Patentrezepten wie denen von Henri aufbaut. Er will kein Fluchthelfer sein, der den Leuten mit Witzeleien das Leben erträglich macht und damit Geld verdient. Über die Trauer um Nelly hilft ihm Stellas Katze hinweg, er lacht vor Freude - statt über dumme Witze. Lachen ist erlaubt, es kann eine befreiende Wirkung haben, es befreit uns von der Angst vor dem Nichts.

Sprache und Kritik

Die Botschaft der Geschichte ist verborgen hinter einer Fülle von Details, was es dem Leser anfangs nicht leicht macht. Doch das macht den Text geheimnisvoll, weckt Neugier. Beim ersten Hören am Fernseher gefiel die Geschichte. Ihre Tiefendimension erschließt sich dabei jedoch noch nicht. Abeer, Henri, Leonhard, Nelly, Herr und Frau Pantidis, Roland, Schwetz, Shirakawa, Stella, Wahid: Die Tatsache, dass es sehr viele Personen mit Namen gibt, verwirrt zunächst. Ihre Beziehung zueinander wird erst beim Nochmal-Lesen klar.

Interpretationshilfe durch den Titel

Der Hinweis im Titel vereinfacht die Deutung, und ohne ihn wäre es wohl schwer, hinter die Aussage Glasers zu kommen. Die Sprache wimmelt nur so von Bildern, Metaphern, Vergleichen. Details werden genau betrachtet und farbig geschildert: "Schwetz gab mir die Hand, die gleich wieder verschwand, wie eine Flüssigkeit." Der Text ist sehr welthaltig, wie Denis Scheck in Klagenfurt sagte. Die Atmosphäre Kairos, die intime Ortskenntnis, durch die Figur des Wahid belegbar, beeindruckt.

"Welthaltigkeit" als Selbstzweck?

Manche Elemente im Text haben keine Bedeutung oder sich zumindest sehr schwer verständlich. Abeer zum Beispiel, die auf einem Schiff zum ersten Mal in ihrem Leben allein in einem Zimmer ist. Oder die Tätigkeit des Goldschmieds, der Glutverkäufer. Das klingt so, als würde hier Ortskenntnis, "Welthaltigkeit" demonstriert, ohne dass es einen Bezug zur Aussage der Geschichte hätte.

Überflüssige Details?

Es wird auch nicht klar, warum es wichtig ist, wie die Frisur von Henri aussieht. Warum brennen in der Nähe der Pyramiden Zuckerrohrfelder? Warum fährt Tante Nelly ausgerechnet im Wohnwagen nach Athen? Was ist mit der Frau am Hamburger Bahnhof, "die aussah, als hätten ihre Kleider sie gekauft und nicht umgekehrt." Kommt es Glaser tatsächlich nicht auf diese Details an, oder ist ihre Aussagekraft zu gut versteckt? Es entsteht der Eindruck, Glaser wollte damit die Geschichte farbig machen. Das tun diese Dinge, aber sie lenken auch ab. Ohne diese überflüssigen Details wäre die Geschichte kürzer, dichter und leichter verständlich. Vielleicht auch nicht mehr so geheimnisvoll.

"Süden" und "Norden"

Manche Tatsachen erwecken den Verdacht, dass sie wichtig sind, aber sie sind nicht vollkommen verständlich, wie schon am Beispiel der Leerzeichen in der Liebes-SMS erwähnt wurde. Auch dass die Geschichte in zwei Kapitel, "Süden" und "Norden" gegliedert ist, ist kaum verständlich. Es handelt sich um die beiden Schauplätze, aber steckt noch etwas anderes dahinter? Einen wahrscheinlich unbeabsichtigten Sprung in der Geschichte gibt es an der Stelle, wo der Protagonist zum Peloponnes verwiesen wird, aber nicht dorthin, sondern nach Italien reist.

Botschaft gut versteckt

Insgesamt kann man aus der Geschichte lernen, wie man eine Botschaft geschickt versteckt, wie man Hinweise dosiert, die Neugier erwecken und die Geschichte vieldimensional machen. Wie viele neue Geschichten, unter anderem auch viele Texte des Bachmann-Wettbewerbs, ist die Story aus der Ich-Perspektive geschrieben.

Peter Glaser

Glaser las bei den Klagenfurter Tagen für deutsche Literatur im Juni 2002 eine Geschichte, in der es um den Abschied von geliebten Menschen geht, um das Nichts, und um eine Poetik des Nichts. Er bekam den ersten Preis zurecht, und man kann einiges aus der Geschichte lernen.

Bibliographisches

Letzte Änderung: November 2004

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