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Ralf Rothmann: Ein Winter unter Hirschen

- Inhaltsangabe und Interpretation -

Ralf Rothmanns Geschichte ist zunächst verwirrend und scheint ziellos. Dann aber gewinnt sie an Fahrt und zeigt einen Mann und eine Frau als Jäger und Gejagten.

Inhaltsangabe

Die Ich-Erzählerin lebt mit ihrer Tochter Angela in einer WG im Haus von Carl, einem Taxifahrer und Jagdhelfer. An einem Wintertag fegt ein heftiger Sturm um das Haus, auch das Fernsehen zeigt Bilder von umgestürzten Bäumen auf den Champs Élysées. Carl sitzt vor dem Fernseher und säuft, während sich die Ich-Erzählerin Sorgen um Angela macht, die noch nicht von der Schule heimgekommen ist. Sie geht von einem Fenster zum anderen und knibbelt sich die Nagelhaut blutig.

Plötzlich steht der betrunkene Carl hinter ihr, legt ihr den Arm um die Taille, aber sie entkommt ihm, seinem schrecklichen Alkoholgeruch. Sie geht in ihr Zimmer, Carl geht ihr nach, verschwindet aber bald wieder. Als sich die Ich-Erzählerin in der Küche einen Kaffee machen will, steht plötzlich wieder Carl hinter ihr. Sie beschwert sich, dass er ihr nachschleicht. Er greift nach ihrem Handgelenk, starrt sie an. Diesmal kann sie nicht entkommen.

Er erzählt ihr, was manche Jäger machen, wenn sie ein Reh geschossen haben und es sterbend auf einer Lichtung liegt: Sie umfassen das Gesicht des Tiers, sehen ihm in die Augen, in denen man alles sehe, den ganzen Wald. Er küsst sie, drückt sie an sich. Sie streichelt ihm den Rücken, dann schlafen sie miteinander.

Danach steht die Ich-Erzählerin am Fenster, Carl umarmt sie, und sie zeigt ihm eine Schafherde etwas unterhalb des Hauses. Carl stutzt, lässt sie los und zieht sich an: Es sind keine Schafe, es ist Wild, unzählige Tiere, Rehe, Böcke, Damwild und Hirschen. Carl telefoniert, während die Ich-Erzählerin fasziniert durch das Fernglas die Tiere beobachtet. Carl legt das Telefon weg, blickt sich um, seine Augen sind klar. Dann fragt er, wo Angela ist.

Interpretation

Der Anfang der Geschichte macht den Leser neugierig. Rothmann lässt den Leser längere Zeit im Unklaren über die Situation, und gerade das macht den Anfang so faszinierend. Hier die ersten Sätze:

Carl winkte ab. Er hatte alles gesichert und stellte den Fernseher an. In Paris, und nicht nur dort, flogen Brocken durch die Luft, doch er lachte, klopfte mit der Hand auf das Sofapolster. Ich blieb stehen. Eine ganze Veranda schrammte über die Champs Élysées...

Was hier gesichert wird, wird nicht gleich gesagt. Was der Fernseher zeigt - einen Spielfilm oder eine Life-Übertragung vom gerade beginnenden Atomkrieg - wird nicht gesagt. Die Hinweise auf Katastrophen schaffen jedoch eine bedrohliche Atmosphäre.

Auch die Beziehungen zwischen Carl, der Ich-Erzählerin und Angela werden erst allmählich klar. So wird der Dackel als "sein (d.h. Carls) Jagdteckel" bezeichnet, das Haus aber ist "unser Haus". Die Ich-Erzählerin zahlt keine Miete. Man fragt sich: Sind die beiden verheiratet, sind sie ein Pärchen oder welche andere Beziehung verbindet sie? All das erzeugt Verwirrung, aber auch Neugier. Der Leser muss die Puzzlestücke zusammenfügen.

Motiv vom Jäger und Gejagten

Allmählich wird klar, die Frau hat Angst: Vor dem furchtlosen, betrunkenen, geilen Carl, vor dem Wind und davor, dass ihrer Tochter etwas zustoßen könnte. Die allgemein bedrohliche Situation und Verwirrung geht über in konventionelle Spannung, man fragt sich: Wird Carl der Ich-Erzählerin etwas antun? Man könnte glauben, dass eine Vergewaltigung bevorsteht. Dazu passt das Motiv vom Jäger und Gejagten. Dass Carl nicht nur im Wald der Jäger ist, wird schnell klar. Er genießt die Angst seiner Beute, die hier die Ich-Erzählerin ist.

Die Schlüsselstelle

Carls Erzählung vom sterbenden Reh enthält den Schlüssel für die Geschichte.

"Weißt du, was manche Jäger machen, wenn sie ein Wild geschossen haben?" (...) "Wenn sie ganz allein im Revier sind, und das Reh liegt sterbend auf der Lichtung? Ihr denkt immer, wir sind Bestien. Aber das ist doch ... Man steigt vom Hochsitz und geht langsam zu dem Tier." (...)
Er drückte die Stirn gegen meine Schläfe, doch ich konnte nicht weg, stand mit dem Rücken am Schrank. "Sie beugen sich herunter ...", murmelte er (...)
"Sie umfassen ihren Hals, wo die Schlagader pocht, rasend oder langsam, sie umfassen das Gesicht. So ein zartes Gesicht ... Du siehst alles in diesem Blick, den ganzen Wald."
Angst der Frau und Angst des Rehs

Im Blick des sterbenden Rehs spiegelt sich der Wald, die Welt des Tieres. Man könnte ergänzen: eine Welt, die von Angst geprägt ist. Eine unerwartete Wende tritt ein, als die Frau sich fügt. Denn unmittelbar anschließend an die Binnenerzählung steigt die Ich-Erzählerin mit Carl ins Bett. Man könnte vermuten: Als von Angst geprägte Frau fühlt sie sich von Carl verstanden, sie identifiziert sich mit dem Reh. Sie steht gerade große Angst (um ihre Tochter) aus, eine Angst, fast so groß wie die Todesangst des Rehs. Dass sich der Carl des Rehs annimmt deutet sie wie ein Versprechen, sich ebenso um sie zu kümmern. Eine andere Interpreationsmöglichkeit ist: Sie spürt die Faszination, die von dem Jäger ausgeht, von seiner physischen Kraft, seinem Jagdinstinkt. Diese Faszination bringt sie dazu, mit ihm zu schlafen.

Rätselhafter Schluss

Der Schluss der Geschichte bleibt rätselhaft. Als das Wild auftaucht, und Carl sich plötzlich von der Ich-Erzählerin abwendet, vermutet man als Leser kurz, er werde nun ein Gewehr nehmen und auf die Jagd gehen. Doch seltsamer Weise scheint er sich jetzt gar nicht mehr so für die Tiere zu interessieren. Er fragt nach Angela. Warum? Der Grund dafür bleibt ein wenig unklar. Hat er seinen Jagdtrieb an der Ich-Erzählerin abreagiert und hat deshalb wieder klare Augen, erwacht gewissermaßen? Oder fühlt er sich machtlos, weil das Wild vom Sturm geängstigt ist, und nicht vor ihm geflüchtet ist? Oder hält er gar mit der Frage nach Angela schon Ausschau nach dem nächsten Opfer?

Die Spannung zwischen der Frau und dem Mann beherrscht die Geschichte. Die Ich-Perspektive aus der Sicht des Opfers führt dazu, dass der Leser sich mit der Frau und ihrer Angst identifiziert.

Aus Autorensicht

Die Geschichte zeigt, dass man den Leser auch durch einen recht unverständlichen Anfang ködern kann. Das funktioniert aber wohl nur, wenn man irgendwann die Kurve kriegt und sozusagen ordentlich weitererzählt. Ausgesprochen stark ist die Schlüsselszene, die Erzählung vom Reh. Der Schluss ist aus meiner Sicht misslungen, da zu unklar. Unklar, wenn nicht unpassend erscheint auch der Titel: Ein Winter unter Hirschen? Der Titel suggeriert mir, hier verbringe jemand einen Winter inmitten eines Hirschrudels. Auch wer an die übertragene Bedeutung von Hirsch denkt - etwa in Aussprüchen wie "Du Hirsch" -, geht in die Irre. Sprachlich ist die Geschichte ansonsten gut. Rothmann bringt schöne Bilder - wie die Schneewirbel, die die Form von Menschen in langen Mänteln haben. Und Details, die die Geschichte authentisch wirken lassen: die rappelnden Spanplatten, die blutige Nagelhaut, die vereisten Haare am Hals der Hirsche. Schön auch die Stelle: "Hartgefrorene Ackerschollen ragten wie Krusten aus dem Schnee, wie diese dunklen Brote, die sie hier essen..."

Ralf Rothmann

1953 in Schleswig geboren, ist im Ruhrgebiet aufgewachsen und lebt in Berlin. Er veröffentlichte mehrere Erzählungen und Romane. Neben Prosa schreibt er aber auch Gedichte und Dramen.

Bibliographisches

Letzte Änderung: November 2004

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