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Ambrose Bierce:
Ein Vorfall an der Owl-Creek-Brücke

- Inhaltsangabe und Interpretation -

"Bitter Bierce" knackt in seiner Geschichte aus dem amerikanischen Bürgerkrieg das Dogma, dass erzählte Zeit gleich Erzählzeit sein muss.

Inhaltsangabe

Teil 1
Im amerikanischen Bürgerkrieg steht ein Mann auf einer Eisenbahnbrücke. Seine Hände sind auf dem Rücken zusammengebunden, sein Hals steckt in einer Seilschlinge. Ein wenig weiter steht ein Offizier der amerikanischen Nordstaatenarmee. Auf einen Wink von ihm wird ein anderer Soldat zur Seite treten, woraufhin die Planke, auf der der Verurteilte steht, kippen, und der Mann gehängt werden wird. Der Verurteilte schließt die Augen. Er versucht, an seine Frau und seine Kinder zu denken. Merkwürdig verlangsamt und laut hört er seine Uhr ticken. Dann nickt der Offizier und sein Untergebener tritt zur Seite.

Teil 2
Rückblende: Peyton Farquhar – so heißt der Mann – ist ein wohlhabender Pflanzer, ein überzeugter Anhänger der Südstaaten. Nicht n&auuml;her benannte, zwingende Umstände haben ihn abgehalten, Soldat zu werden. Eines Abends kommt ein Mann in der Uniform der Südstaatenarmee zu seinem Gehöft. Er erzählt, dass die Yankees die Owl-Creek-Brücke besetzt hätten und jeden Zivilisten, der sich daran zu schaffen machen würde, sofort hängen würden. Farquhar, der darauf brennt, seinen Mut zu beweisen, beschließt, die Brücke in Brand zu stecken. Doch der Fremde ist ein Kundschafter der Nordstaaten-Union. Farquhar geht in die Falle und wird gefasst.

Teil 3
Als Farquhar senkrecht von der Brücke stürzt, erlebt er die letzten Sekunden in quälender Langsamkeit. Er wird sich einer Bewegung bewusst, dann hört er ein Platschen. Er weiß, dass der Strick gerissen und er in den Fluss gestürzt ist. Vor den feindlichen Kugeln wegtauchend, erreicht er das Ufer und stürzt in den Wald. Dann macht er sich auf den Weg nach Hause. Am Morgen erreicht er sein Gehöft, wo ihn seine Frau erwartet. Er stürzt auf sie zu. Da spürt er einen Schlag im Genick, weißes Licht flammt auf. Dann ist alles dunkel. Farquhar ist tot. Sein Körper schaukelt am Strick unter der Brücke.

Interpretation

In der Geschichte beschreibt Bierce, selbst Kundschafter im amerikanischen Bürgerkrieg, die tragischen Folgen eines Irrtums. Ein Zivilist fällt auf den Trick eines gegnerischen Kundschafters herein, geht in die Falle und stirbt. Die Story lebt jedoch davon, dass der Leser wie Farquhar der Illusion erliegt, dass der Strick reißt und Farquhar durch einen wunderbaren Zufall entkommt.

Erzählte Zeit und Erzählzeit

Erst beim zweiten Lesen merkt man, dass die Strecke, die Farquhar zurücklegt, nur so lang ist wie der Strick, an dem er hängt, dass alles, was nach seinem Fall passiert, nur ein Wunschtraum war, dass erzählte Zeit (d.h. die lange Zeit, die Farquhar erlebt zu haben glaubt) und Erzählzeit (also die Zeit, die wirklich vergeht) weit auseinanderklaffen.

Langer Traum

Angedeutet wird diese zeitliche Diskrepanz schon im ersten Abschnitt, als Farquhar das Ticken seiner Uhr so extrem verlangsamt und deutlich wahrnimmt, dass es ihm wie das Läuten einer Totenglocke erscheint. Der zweite Abschnitt schildert die Vorgeschichte. Erst im dritten Teil, dem längsten, folgt das, was sich eigentlich in Sekundenbruchteilen abspielt: die imaginäre Flucht von Farquhar. Interessant ist die quantitative Verteilung des Stoffes: Auf vier Seiten schildert Bierce das Geschehen auf der Brücke, auf zwei Seiten die Vorgeschichte - aber auf acht Seiten die Todesphantasie Farquhars.

Auktoriale Perspektive

Die Pointengeschichte ist auktorial erzählt. Bierce scheut sich nicht, eigene Erkenntnisse einzusteuen: "Der Tod ist ein Würdenträger, der, wenn er angemeldet kommt, mit förmlichen Respektsbezeugungen zu empfangen ist..."

Aus Autorensicht

Der Anfang der Geschichte ist sehr distanziert, ja unterkühlt geschrieben. Der Verzicht auf den Namen des Protagonisten (des Verurteilten) verstärkt den Effekt. Der Erzähler wirkt geradezu zynisch. Als die Vorrichtung geschildert wird, mit der Farquhar gleich zu Tode kommen wird, heißt es: "The arrangement commended itself to his judgment as simple and effective." also: "Diese Einrichtung empfahl sich seinem (d.h. Farquhars) Verstand als einfach und wirksam." Lakonischer und trockener kann man es wohl kaum schreiben. Es ist dieser Zynismus, der die Soldatengeschiochten von Bierce so lesenswert macht. Der Zynismus ist ein Weg, das Moralinsaure so manch anderer Kriegsgeschichte zu umgehen. Ein Weg, den leicht weinerlichen Ton (sorry) von Borchert und Böll nach dem Zweiten Weltkrieg zu vermeiden.

Bierce hätte die Geschichte auch chronologisch und viel konventioneller schreiben können. Dann wäre die Pointe des zweiten Teils vielleicht die Pointe des ganzen Textes geworden. Das hätte sich dann zum Beispiel so lesen können: Farquhar kommt am Abend heim. Er sehnt sich vom monotonen Alltag weg, nach einem abenteuerlichen Soldatenleben, vielleicht als Kundschafter der Konföderierten. Da kommt ein Soldat in der grauen Uniform der Südstaaten, ein Mann, den er bewundert und beneidet. Der erzählt ihm von der wichtigen Brücke, wie schwer sie zu vernichten wäre. Farquhar beschließt, es zu wagen. Er stiehlt sich in der Dunkelheit von seiner Familie weg. Alles geht gut, bis er die Fackel auf das Treibholz am Fuß der Brücke wirft. Da fühlt Farquhar, wie ihm jemand eine Hand auf die Schulter legt. Es ist der Mann vom Vorabend, aber er trägt nun die Uniform des Feindes.

Das wäre eine Geschichte nach Schema F gewesen, keine schlechte, aber keine originelle Geschichte. Es wäre nicht die Story von Bierce gewesen, die Story, die ein Dogma geknackt hat, das Dogma "Erzählte Zeit = Erzählzeit", das für die Kurzgeschichte bis dahin zu gelten schien.

Ambrose Bierce

"Bitter Bierce" wie der Autor gelegentlich genannt wurde, ist DER Autor des amerikanischen Bürgerkriegs. Bierce (1842-1914, verschollen) schrieb unter anderem das schwarz-humoristische "Des Teufels Wörterbuch". Seine Teilnahme am Amerikanischen Bürgerkrieg prägte sein Werk. Doch er schrieb auch phantastische Literatur. Eines seiner bekanntesten Werke ist "An Occurence at Owl Creek Bridge".

1913 ging Bierce nach Mexiko, um als Reporter über den Aufstand des Pancho Villa und den dortigen Bürgerkrieg zu berichten. Er verschwand spurlos.

Bierce schrieb außer seinen Soldatengeschichten noch "Horrorgeschichten", glänzend komische "Lügengeschichten", "Fantastische Fabeln" nach klassischem Vorbild und "Des Teufels Wörterbuch", in dem er sein zynisches Weltbild darlegt. Alle Geschichten sind auf deutsch in einer billigen und schönen, 1.000 Seiten umfassenden Ausgabe im Verlag 2001 erschienen.

Bibliographisches

April 2003, letzte Änderung Dezember 2007

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