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Franz Kafka: Ein Hungerkünstler

- Inhaltsangabe und Interpretation -

Der "Hungerkünstler" ist mehr eine Parabel als eine Kurzgeschichte. Es geht um eine altbekannte Wahrheit: dass Menschen Anerkennung brauchen.

Inhaltsangabe

Der Hungerkünstler zieht mit seinem Impresario durch die Lande. Überall findet seine Kunst zahlreiche Zuschauer. Man bewacht ihn, damit er nicht heimlich isst, und er genießt die Bewachung, da sie ihm das Hungern erleichtert. Der Impresario muss den Hungerkünstler jedesmal zwingen, das Hungern zu beenden. Denn der Hungerkünstler glaubt, noch viel länger fehlerlos hungern zu können.

Aber dann tritt eine Wende ein. Die Menschen wollen ihn nicht mehr hungern sehen. Er wechselt zu einem großen Zirkus, wo er am Rande der Vorstellung, auf halbem Weg zwischen Zirkuszelt und Raubtiergehegen, einen Käfig bekommt, wo er hungern kann. Die Menschen, die früher ausschließlich kamen, um ihn hungern zu sehen, die ihn täglich besuchten, ziehen nun vorbei, ohne ihn zu bemerken. Nur wenige beachten ihn und werfen einen Blick auf die Tafel, die zeigt, wie lange er schon hungert.

Allmählich vergisst man ihn, und eines Tages wundern sich die Zirkusleute über den scheinbar leeren Käfig. Man öffnet den Käfig und zieht den Abgemagerten halbtot aus dem Stroh. Er bittet die Zirkusleute um Verzeihung. Er hätte immer Bewunderung für seine Kunst verlangt, aber zu unrecht. "Weil ich hungern muss, ich kann nicht anders. Weil ich nicht die Speise finden konnte, die mir schmeckt. Hätte ich sie gefunden, glaube mir, ich hätte kein Aufsehen gemacht und mich vollgegessen wie du und alle."

Interpretation

Die Hungerkunst: Was im Titel und auch noch weiter in der Geschichte als Kunst erscheint, das Hungern bis zur völligen Entkräftung, wird am Ende als Krankheitserscheinung, als Mangel entlarvt. Das Hungern ist für den Hungerkünstler ein Mittel, Aufsehen zu erregen, Bewunderung zu erwecken. Hätte er diese auf anderem Wege erhalten, durch normale, "bürgerliche" Leistungen, in der Arbeit oder durch Liebe, dann hätte er nicht hungern müssen.

Kafka beschreibt eine psychische Störung, die der Magersucht ähnelt. Magersucht entsteht häufig dadurch, dass jemand - meist ein Mädchen in der Pubertät - versucht, die Aufmerksamkeit und Liebe ihrer Eltern, ihrer Freunde und so weiter zu erzwingen.

Vielleicht bedeutet die Geschichte aber noch mehr. Den Hungerkünstler hungert nach Anerkennung, nach Liebe, und das ist etwas, was jeden Menschen umtreibt. Egal, wodurch er sich die "Speise" erwirbt, auf anerkannte oder auf seltsame Weise: Der Mensch ist davon abhängig. Deutlich wird die Abhängigkeit durch eine Wende, wie sie auch dem Hungerkünstler zu schaffen macht. Auf einmal ist seine Kunst nicht mehr gefragt, er verliert den Halt und verhungert. Dasselbe kann jedem von uns passieren: Auf einmal merken wir, dass unsere Fähigkeiten, unsere Charaktereigenschaften nicht mehr gefragt sind. Wir werden arbeitslos, unsere Freunde verlassen uns, weil wir nicht mehr "in" sind, unsere Gewohnheiten machen uns zu Außenseitern, die Bilder, die ein Künstler malt, sind nicht mehr in Mode. Wir finden unsere "Speise" nicht mehr. Es ist wohl diese Abhängigkeit von gesellschaftlicher oder persönlicher Anerkennung, die Kafka in seiner Parabel darstellen wollte.

Eine andere Deutungsmöglichkeit geht von dem Wort Hungerkünstler aus. Es erinnert an die Redewendung von der brotlosen Kunst. Und so bildet die Parabel Kafkas auch die Situation des Schriftstellers ab. Kafka selbst konnte ja nicht von seiner Kunst leben, sondern brauchte einen Brotberuf. Der Hungerkünstler aus Kafkas Geschichte will nicht ungesehen hungern. Und so wollen die meisten Schriftsteller nicht nur für die Schublade schreiben, sondern auch gelesen werden.

Franz Kafka

Bekannt durch die Romanfragmente "Das Urteil", "Der Prozess" und "Das Schloss", aber auch durch Erzählungen wie "Die Verwandlung", wurde Kafka (1883-1924) nicht nur sprichwörtlich ("kafkaesk"), sondern ist einer der wichtigsten Autoren deutscher Sprache. Er schrieb mit beispielhafter Ökonomie und bedrückender Eindrücklichkeit.

Bibliographisches

Letzte Änderung: Juni 2005

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