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E. Annie Proulx: Die gelben Sümpfe

- Inhaltsangabe und Interpretation -

Die Autorin des verfilmten Romans "Schiffsmeldungen" schreibt spannend und bildreich zugleich: "Die gelben Sümpfe" sind eine geglückte Story

Dramatisches und Lyrisches erscheinen oft wie zwei ganz verschiedene Welten. Zur dramatischen Welt gehört die Spannung, zur lyrischen Sprachbilder. Selten gibt es Kurzgeschichten und es gibt Storys, die gleichzeitig spannend sind und durch die Welt ihrer sprachlichen Bilder faszinieren. Das Statische, das Gedichte haben und das Auf-einEnde-Zustreben des Dramatischen passen scheinbar nicht zusammen. Und doch gibt es Geschichten, die beides vereinen. E. Annie Proulx schafft es in ihrer Kurzgeschichte "Die gelben Sümpfe", die beiden Enden zusammenzubiegen.

Inhaltsangabe

Die Rivers und die Sauvages wohnen irgendwo in Kanada auf dem Land. Sie sind seit langem Nachbarn, haben aber keinen Kontakt miteinander. Jeden Morgen fährt Rivers in seinem Auto zu seinem Angelladen und begegnet Mrs. Sauvage. Jedesmal winkt er der verwirtt aussehenden Nachbarin, aber sie ignoriert ihn. Später ruft ihn seine Frau im Geschäft an: Mrs. Sauvage hätte mit ihrem Jeep den Garten verwüstet. Sie macht ihm Vorwürfe, droht damit, ihn zu verlassen.

Als Rivers abends heimkommt, ist sie weg. Mr. Sauvage kommt herunter zu ihm. Seine Frau hätte eine Maus gegessen und das Telefon ins heiße Wasser gestellt. Rivers lässt den Nachbarn telefonieren, und etwas später holt ein Krankenwagen die durchgedrehte Mrs. Sauvage ab.

Am nächsten Tag kommt Sauvage in den Laden von Rivers. Er bedankt sich und lädt ihn zu einem Angelausflug in die Gelben Sümpfe ein, einer düsteren, wilden Gegend, wo es riesige Bachforellen gebe.

Sie fahren zu den Sümpfen, bewegen sich zu Fuß und später per Kanu weiter in die verlassene Gegend. Die erste Nacht verbringen sie im Zelt. Rivers tastet nach den fünf Whiskey-Flaschen in seinem Gepäck, rührt sie aber nicht an. Er hat seit Jahren nichts mehr getrunken, seine jetzt verschwundene Frau hat ihm dieses Versprechen abgenommen.

Am nächsten Morgen paddeln sie weiter den Fluss hinauf. Sie haben sich verirrt. Um das Abziehen des Nebels abzuwarten, stellen sie das Zelt auf und angeln. Während Sauvage mit seiner billigen Rute eine Forelle nach der anderen fängt, geht Rivers trotz seiner wertvollen Bambusrute und seiner kunstvollen Angelweise leer aus. Frustriert beginnt Rivers zu trinken. Während Sauvage seine Fische brät, geht er weg, um für sich allein zu angeln. Den Whiskey nimmt er mit.

Obwohl Rivers alles versucht, fängt er nichts. Nach ein paar Stunden wandert er zurück zu Sauvage. Der sagt voll Angst, es wäre noch jemand in den Sümpfen. Er hat offenbar Rivers gesehen, wie er nackt und ein weißes Tuch um den Kopf gewickelt im Wasser stand, kunstvolle Angelwürfe machte. Rivers sagt im Scherz, das sei die Werforelle gewesen. Die hätte die beiden Ehefrauen verjagt, und nuhn wäre sie hinter Sauvage her, weil der die Forellen gefangen hätte. Während Sauvage gekränkt ins Zelt kriecht, säuft Rivers weiter.

Als er am Morgen wieder zu Bewusstsein kommt, liegt er frierend im Regen. Er kriecht zum Zelt, dabei knackt es unter seinem Knie: Er hat die wertvolle Bambusangel zerbrochen. Im Zelt wickelt er die letzte Flasche aus dem Nachthemd seiner Frau. Im Glas sieht er sein Spiegelbild: den kinnlosen Hals, den blassen, spitzen Mund und die leeren, rostigen Augen der Werforelle.

Interpretation

Proulx erzählt die Geschichte eines persönlichen Ruins, des Rückfalls von Rivers in den Alkohol. Die Handlung setzt ein beginnt mit dem geleichzeitigen Verschwinden von Mrs. Rivers und Mrs.Sauvage. Die eine läuft davon, die andere wird wahnsinnig. Auf diese Weise lernen sich die beiden Männer kennen. Im Mittelpunkt steht Rivers, ein trockener Alkoholiker, dessen Welt nur notdürftig zusammenhält durch chinesische Gedichte, die seine Triebe besänftigen, und durch die tägliche Flucht in den Anglerladen. Als seine Frau wegläuft, wird ihm die Trostlosigkeit seines Lebens wieder bewusst. Er folgt Sauvage in die Sümpfe, deren düstere Flussläufe erscheinen wie der Styx, das Tor zur Unterwelt. Während Sauvage vor dieser Gegend Angst hat, ist Rivers diese Trostlosigkeit gewissermaßen aus seiner Säufervergangenheit vertraut. Als Rivers von dem Anfänger Sauvage dann noch auf seinem ureigensten Gebiet, dem Angeln, von den Anfänger Sauvage geschlagen wird, kehrt er zum Alkohol zurück. Eine "Moral" im engeren Sinn des Wortes hat die Geschichte nicht.

Die beiden Hauptfiguren heißen Sauvage (frz. für wild) und Rivers (engl für Flüsse). Die Namen sind sicher nicht zufällig gewählt. Als die beiden zusammenfinden, entsteht ein wilder Fluss, ein Strom, der Rivers in den Abgrund stürzt. Seine Schattenseite stürzt Rivers ins Unheil, und so trug er auch früher den italienischen Namen Riverso, was Unheil, Verkehrtheit und Schattenseite heißt, wie in der Geschichte erwähnt wird.

Ebenso symbolisch ist die Welt der beiden Frauen. Mrs. Sauvage hat eine Vogelnase, Rivers denkt an eine Krähe und zitiert ein Gedicht, das so beginnt:

An den Südhängen lassen sich Krähenschwärme nieder,
an den Nordhängen spannen die Menschen ein Netz, sie zu fangen

Mrs Sauvage ist für ihn die Krähe, die den Fallen nachbarschaftlicher Liebenswürdigkeiten entschlüpft. Seine eigene Frau dagegen stickt Vögel auf Leinen, sie ist die bürgerliche Variante der Krähe. Als sie Rivers im Laden anruft, hat er gerade eine Holzente im Schraubstock. Später, als er seine Whiskeyflaschen im Rucksack spürt, denkt er an seinen Eid: Er kniet nackt vor seiner Frau, die ein blaues Nachthemd trägt, welches am Saum ausgerechnet mit Falken im Sturzflug bestickt ist.

Die Geschichte ist personal aus Sicht von Rivers erzählt. Dabei verwendet Proulx das Präsens. Von den 18 Druckseiten widmet sich die erste Hälfte dem Geschehen am Wohnort der beiden Männer; erst in der zweiten Hälfte geht es in die Sümpfe.

Aus Autorensicht

Was mir an dieser Geschichte von Proulx gefällt sind einerseits die schönen Metaphern und Bilder. Ein Beispiel ist die Beschreibung von Mrs. Sauvage: Ihr tierbraunes Haar ist lang und zerzaust, steht ihr vom Kopf ab wie dunkle, elektrisch geladene Drähte, sie hat eine Vogelnase, blutlose Lippen, schwarze Augen wie nasse Steine. Andererseits ist es die düstere Atmosphäre der Sümpfe und die Spannung, die Proulx aufbaut. Man spürt das herannahende Unheil deutlich, wenn die Sümpfe geschildert werden, aber auch, wenn Rivers zum ersten Mal die fünf Whiskeyflaschen im Rucksack spürt, sie später dann mit der Hand berührt und schließlich zu trinken anfängt. Außerdem wird noch ein Konflikt mit Sauvage aufgebaut, dem man eine Eskalation zutraut. (Hier macht Proulx weit vor dem Mord an Sauvage halt, der durchaus als Möglichkeit in der Luft lag.)

Erst auf den zweiten Blick fällt auf, dass Proulx manchmal mit ziemlich dickem, bedeutungstriefendem Pinsel malt. Das gilt für die allzu sprechenden Namen, für die penetrante Vogelsymbolik. Und sprachlich fällt die Adjektivflut auf. Ein Beispiel für Letzteres (sechs Adjektive in einem Satz): Im schimmernden Glas sieht er sein Spiegelbild: den kinnlosen Hals, den blassen, spitzen Mund und die leeren, rostigen Augen der Werforelle. All das stört beim ersten Lesen allerdings nicht und verhindert die Wirkung der Story meiner Ansicht nach nicht – sie "funktioniert" trotzdem..

E. Annie Proulx

Die amerikanische Schriftstellerin Proulx wurde 1935 geboren. Ihr Name wird "Pruh" ausgesprochen. Nach langer Tätigkeit als Journalistin und Sachbuchautorin begann sie erst mit über 50 Jahren mit dem belletristischen Schreiben. Weltweit bekannt wurde sie durch den Roman "The Shipping News" (Schiffsmeldungen, 1993), der auch verfilmt wurde. In dem Buch geht es um einen verwitweten Mann, der in der Einsamkeit Neufundlands einen Neustart versucht.

Bibliographisches

Letzte Änderung: November 2005

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