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Anton Tschechow: Die Wette

- Inhaltsangabe und Interpretation -

Eine überraschende Wendung irritiert einen scheinbaren Wett-Verlierer.

Inhaltsangabe

Ein alter Bankier denkt an eine Abendgesellschaft zurück, die er vor 15 Jahren gegeben hatte. Damals war es zu einer Diskussion darüber gekommen, was die schwerere Strafe sei: Todesstrafe oder lebenslängliche Haft. Der Bankier hatte gesagt, die lebenslängliche Haft wäre grausamer, denn dabei werde das Leben langsam aus dem Bestraften herausgezogen statt schnell beendet. Er würde lebenslängliches Gefängnis vorziehen, hatte ihm ihm ein 25-jähriger Jurist widersprochen.

Der reiche Bankier hatte mit dem Juristen um zwei Millionen gewettet, dass dieser es nicht 15 Jahre in Einzelhaft aushalten würde. Wenn der Jurist die Haft aushalten würde, bekäme er zwei Millionen, wenn nicht, so hätte er die Möglichkeit, jederzeit in die Freiheit zurückzukehren.

Der Gefangene hatte sich in ein Gartenhaus begeben. Während der freiwilligen Haft hatte er Unmengen von Büchern gelesen, Sprachen gelernt, sich mit Literatur, Wissenschaft, Philosophie und Geschichte beschäftigt.

Nun sind die 15 Jahre abgelaufen, und der Bankier ist verarmt. Er bereut die Wette: Sie würde ihn arm machen und hätte dem Häftling 15 Jahre seines Lebens geraubt. Am Vorabend des Stichtags beschließt er, den Häftling zu töten, um seine Wettschulden nicht bezahlen zu müssen.

Der Bankier geht in das Gartenhaus und findet den Juristen schlafend vor einem Brief am Tisch sitzend. Er glaubt, der Jurist träme von den Millionen. Der Bankier liest den Brief. Darin schreibt der Gefangene, er habe in den 15 Jahren aus Büchern alle Weisheit der Welt entnommen. Aber er verachte die Menschen, Leben, Freiheit und Weisheit. Alles sei flüchtig und illusorisch. Zum Beweis seiner Verachtung für die irdischen Werte würde er kurz vor Ablauf der Frist verschwinden, und damit auf die zwei Millionen verzichten.

Der Bankier küsst den Mann auf den Kopf und verlässt das Gebäude, voller Verachtung für sich selbst. Am nächsten Morgen melden die Wächter, dass der Häftling verschwunden ist. 

Interpretation

Tschechow zeigt in seiner Geschichte zwei Menschen: Der eine erkennt durch Studium von Philosophie und Literatur, dass Weisheit illusorisch und Reichtum vergänglich ist, er wird Asket. Der andere erkennt im wirklichen Leben, dass sein Reichtum vergänglich ist: Er verliert sein Geld. Doch statt die Flüchtigkeit und Wertlosigkeit des Reichtums zu erkennen, ist der Bankier am Schluss sogar entschlossen, für Geld zu morden. Durch den Verzicht des Jüngeren wird der Alte beschämt.

Gliederung

Die Geschichte besteht aus zwei Teilen. Sie beginnt mit einer Rückblende, in der der Bankier die Abendgesellschaft und die letzten 15 Jahre Revue passieren lässt. Der zweite Abschnitt, etwas länger als der erste, schildert die eigentliche Handlung - die Mordabsicht des Bankiers und den Verzicht des Häftlings auf den Wettgewinn. Ihren Höhepunkt erreicht die Handlung dort, wo der Alte zu dem Häftling geht und den Brief findet. Die Geschichte wird aus der Sicht des Bankiers erzählt, doch rutscht Tschechow gelegentlich in die auktoriale Perspektive: "Sein Gesicht sah gelb und fahl aus, ... die Hand ... so dünn und mager, dass es einem graute hinzusehen. ...niemand, der in sein .. Gesicht blickte, würde glauben, dass er erst 40 Jahre alt war."

Das Problem des Handlungsloches

"Die Wette" behandelt den für eine kurze Geschichte extrem langen Zeitraum von 15 Jahren. In der Zeit der Haft passiert nicht viel. Erzähltechnisch steht Tschechow deshalb vor dem Problem, die Abendgesellschaft zu beschreiben, dann ein 15 Jahre langes Handlungsloch zu haben, und schließlich das Ende der Haftzeit zu schildern. Er beschreibt die Ende der Haftzeit und bietet die Vorgeschichte - die Abendgesellschaft und die Haftzeit - als Erinnerung des Bankiers dar. Diese indirekte Schilderung wirkt auf den Leser wie ein Vorwort des Autors. Spannend wird die Erzählung erst in der zweiten Hälfte. Im Vergleich zu modernen Kurzgeschichten wirkt die Geschichte schal und abgestanden.

Moderne Alternative

In einer modernen Kurzgeschichte hätte der Bankier vielleicht im ersten Satz seine Flinte durchgeladen und hätte sich auf den Weg ins Gartenhaus gemacht. Er hätte den Häftling wach angetroffen, und die Vorgeschichte wäre dem Leser im Dialog deutlich gemacht worden. Am Schluss hätte der Bankier sein Gewehr, das die ganze Zeit auf den Juristen gerichtet war, sinken lassen und hätte das Haus voller Scham verlassen.

Unerhörte Begebenheit

"Die Wette" ist keine wirkliche Pointengeschichte, aber auch keine Alltagsgeschichte. Sie entspricht eher dem Typus einer kurzen Novelle, die von einer "unerhörten Begebenheit" berichtet. Das Ganze hat aber auch etwas von einem Märchen: Der Bankier könnte ein König sein, der Jurist ein Jüngling aus dem Volke.

Anton Tschechow

Tschechow (1860-1904) schreibt für den heutigen Geschmack manchmal etwas sehr sozialrealistisch, doch ist er einer der Väter der Slice-of-life-Geschichte.

Bibliographisches

Letzte Änderung: März 2003

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