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Jorge Luis Borges: Die Bibliothek von Babel

- Inhaltsangabe und Interpretation -

Die phantastische Geschichte des großen südamerikanischen Autors ist eine Parabel über die Welt und war wohl eine der Anregungen für Umberto Ecos "Name der Rose".

Inhaltsangabe

Die Menschen leben als Bibliothekare in einer riesigen Bibliothek. Sie besteht aus einer ungeheuer großen, wenn nicht unendlichen Zahl von sechseckigen Galerien. An vier Wänden jedes Sechsecks befinden sich Bücherregale, und zwar jeweils fünf Gestelle, von denen jedes 32 Bücher enthält. Jedes dieser seltsamen Bücher umfasst 110 Seiten mit je 3.200 Buchstaben.

Eine der freien Seiten der Sechsecke öffnet sich auf einen schmalen Gang, der in das nächste Sechseck führt. An diesem Gang liegen zwei winzige Kabinette: In dem einen schlafen die in der Bibliothek lebenden Menschen, die Bibliothekare, im Stehen, im anderen eine Toilette. Außerdem befindet sich dort eine Wendeltreppe, die zu den oberen und unteren Geschossen führt.

Ab aeterno

Entstehung und Ausdehnung der Bibliothek sind unbekannt. Von vielen wird angenommen, die Bibliothek existiere schon immer und sei unendlich. Vor 500 Jahren ist die Theorie aufgestellt worden, dass die Bibliothek vollständig sei: Da in der Bibliothek noch nie zwei gleiche Bücher gefunden wurden, folgerte ein genialer Bibliothekar, es gebe darin alle möglichen Buchstabenkombinationen, aber keine Duplikate. Daraus folgt, dass die Bibliothek ungeheuer groß, aber nicht unendlich ist.

Zunächst sind die Bibliothekare vom Glücksgefühl wie berauscht: War doch jede gewünschte Information über Geschichte, Gegenwart und sogar die Zukunft in irgendeinem Buch enthalten. Man begann nach den "Rechtfertigungen" zu suchen. In irgendeinem Buch, so glaubte man, finde sich die Rechtfertigung für die Taten jedes Menschen. Auch suchte man nach einem Buch über den Ursprung der Bibliothek.

Die Verzweiflung der Bibliothekare

Aber auf die überschwängliche Hoffnung folgte übermäßige Verzagtheit. Man fand fast nur nutzlose Bücher. Einige Bibliothekare begannen zu würfeln, um die gesuchten Informationen auf diesem Weg zu finden. Andere bemühten sich, alle nutzlosen Bücher zu vernichten.

Man glaubte an den "Buchmenschen", einen gottähnlichen Bibliothekar, der das wichtigste Buch von allen gefunden hatte, ein Buch, das Auszug aller anderen sei. Die einen sagen, in der Bibliothek sei nur Unsinn enthalten, das Vernunftgemäße sei die Ausnahme, die Bibliothek sei Produkt einer delirierenden Gottheit.

dhcmrlchtdj

Das literarische Ich glaubt dagegen, es sei überhaupt kein einziger Unsinn enthalten, es sei alles nur verschlüsselt oder allegorisch gemeint. In irgendeiner Sprache bedeute selbst eine Buchstabenfolge wie "dhcmrlchtdj" etwas. Sprechen allerdings bedeute, ins Tautologische zu verfallen, da ja alles schon niedergeschrieben sei. Der Mensch sei nichtig, die sich häufenden Selbstmorde bedeutungslos. 

Er vermutet, dass die Menschheit aussterben wird, die Bibliothek aber fortdauern wird, einsam, unendlich, vollkommen und nutzlos. Er glaubt also, die Bibliothek sei unendlich, sie wiedehole sich periodisch. Durch die Wiederholung sei die scheinbare Unordnung in der Bibliothek in Wirklichkeit eine Ordnung.

Interpretation

Die Welt als Bibliothek 

Borges beschreibt in "Die Bibliothek von Babel" eine seltsame, fremde und eigentlich unerträgliche Welt. Denn schon im ersten Satz wird deutlich, dass die Bibliothek mit der Welt gleichgesetzt wird: "Das Universum, das andere die Bibliothek nennen..." Die Geschichte ist eine Parabel über die Welt. 

Diese Bibliothekswelt ist eine reduzierte: Es gibt keine Tiere, Pflanzen, keine Natur, nicht einmal Bauern, Arbeiter, Handwerker, Dienstleister. Die in der Bibliothek lebenden Menschen sind auf ihre Funktion reduziert, sie werden als Bibliothekare bezeichnet. Diese surreale Realität ist traumhaft, kafkaesk und im Grunde unmöglich. Denn wovon sollten die Menschen leben, was sollten sie essen und trinken, wo sollte der Sauerstoff herkommen, wenn nirgends Pflanzen sind? Der Elfenbeinturm der Intellektuellen, diese Welt, die nur aus Büchern besteht, die Welt des Bibliothekars Borges, kann sich in Wirklichkeit nicht ganz von den anderen Welten abschotten, den Welten von Bauern und Arbeitern, von Handwerkern und Dienstleistern, von Tieren und Pflanzen. 

Sinnsuche

Dadurch, dass die Welt auf das "Wesentliche" reduziert ist, auf Bücher nämlich, werden die Menschen durch nichts abgelenkt von der Sinnsuche. Es gibt keine Sinnlichkeit in dieser Welt. Die Menschen können nichts tun, außer sich Weltanschaungen zu ersinnen, die nicht wirklich überprüfbar sind. 

Erkenntnistheoretische Aspekte der Bibliothek

Die in der Geschichte behandelte Problematik ist semiotisch: Wie kann man eine Information vom bedeutungslosen Rauschen unterscheiden? Auch eine auf den ersten Blick sinnlos erscheinende Buchstabenkette kann in irgendeiner Sprache, durch eine geeignete Interpretation, etwas Sinnvolles bedeuten.

Die Suche nach dem Buch der Bücher, nach einem Katalog zumindest, wäre dann sinnlos. Man könnte genauso gut nach der Sprache suchen, die aus einem beliebigen, scheinbar nutzlosen Buch ein wichtiges Buch macht. Woran sollte man aber erkennen, ob die so erkannte "Wahrheit" etwas mit der Wirklichkeit zu tun hat, und nicht nur Aussagen über das Weltbild des Bibliothekars macht?

Einige Bibliothekare glauben, die Bücher bedeuteten überhaupt nichts. Wenn jemand ein Buch fände, das er interessant fände, dann wäre das eine Aussage über den Bibliothekar, nicht über das Buch. Es geht also auch um Erkenntnistheorie. Selbst das Wenige, das man über die Bibliothek weiß, zum Beispiel, dass sie vollständig ist und sich nicht wiederholt, beruht auf einem Induktionsschluss und kann jeden Tag wiederlegt werden - z.B. wenn ein Duplikat gefunden wird.

Die Suche nach Gott und seiner Rechtfertigung

Es wird auch auf das alte theologische Problem der Theodizee angespielt, also auf die Rechtfertigung Gottes in Anbetracht der nicht-perfekten Welt: Was ist von einem Gott zu halten, der nur lauter Unsinn produziert hat, als er die Bibliothek erschuf? Auf die Religion verweisen auch die Suche nach dem Buch der Bücher (nicht so genannt, aber wohl so gemeint), nach dem gottähnlichen "Buchmenschen" und der Titel der Erzählung: In Babel wurde nach biblischer Überlieferung der Hochmut der Menschen bestraft. Beim Turmbau in Babel macht das Sprachgewirr die Hoffnungen der Menschen zunichte, in der Bibliothek von Babel ist es das Buchgewirr.

Informationsflut 

Die Bibliothek ist in Borges' Geschichte ist nicht der Hort des Wissens oder gar der Weisheit, sondern ein schrecklicher Ort, der den Menschen überfordert. Wenn man auf die jahrtausendealte Schriftkultur der Menschheit zurückblickt, auf die philosophische Literatur z.B., dann findet sich sicher eine Menge überholten Unsinns, aber das meiste ist wohl doch irgendwie sinnvoll. Das liegt zum Teil daran, dass nicht alles, was gedacht wurde, auch veröffentlicht wurde, und nicht alles was veröffentlicht wurde (ob auf Papyrus oder im Rotationsdruck) sich auch erhalten hat. Heute wird von Jahr zu Jahr immer mehr veröffentlicht, das "Wissen" der Menschheit verdoppelt sich in immer kürzerer Zeit. Ein wenig erinnert die Situation der Bibliothekare einen heutigen Leser auch an das Internet, an die schier unendliche "Informations"-Flut, an Fehlinformationen, die im Internet sicher zu Tausenden zu finden sind.

Zwischen Erzählung, Parabel und Essay

Die Erzählung von Borges kommt ohne eigentliche Handlung aus, es werden Weltanschaungen beschrieben, deren Entwicklung eine (fragmentarische) Geschichte der Bibliothek ergibt. Damit steht Borges' Erzählung an der Grenze zum Essay und zur Parabel. Ein anonymes, literarisches Ich - von Erzähler zu sprechen, wäre übertrieben - räsoniert über die labyrithische Bibliothek und damit über die Welt. Borges wählt die Gegenwartsform, um zu zeigen, dass die Bibliothek keine wirkliche Geschichte hat, sondern in einer ewigen Gegenwart dahindämmert. Eine Geschichte haben nur die Bibliothekare.

Die Erzählung erinnert an Kafkas "Schloss"-Roman: Auch darin wird nach etwas Metaphysischem, Gottähnlichem gesucht, auch dort wird eine Parabel der Welt entwickelt. Wie die Bibliothek, so ist auch die Erzählung sehr vieldeutig, hat zahllose Parallelen und der Leser findet viele Strömungen der Geistesgeschichte darin wieder.

Jorge Luis Borges

Borges ist das Vorbild des blinden Jorge aus Umberto Ecos "Name der Rose". Der große Schriftsteller und Bibliothekar aus Argentinien (1899-1986) schuf vor allem phantastische Erzählungen.

Die "Ficciones" gaben den Anstoß zum magischen Realismus Lateinamerikas und sind wohl das wichtigste Einzelwerk eines Lateinamerikaners. Die bekannteste Erzählung daraus ist die "Bibliothek von Babel".

Bibliographisches

Letzte Änderung: April 2003

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