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Friedrich Dürrenmatt: Der Tunnel

- Inhaltsangabe und Interpretation -

Der Einbruch eine Katastrophe bringt einen Studenten zuerst zur Verzweiflung und dann zu Gott. Wie das "Atelierfest" von Hildesheimer ein Klassiker unter den surrealen Kurzgeschichten und ein Hauptwerk des Schweizer Autors

Inhaltsangabe

Auf einer alltäglichen Fahrt wundert sich ein 24-Jähriger, dass der Zug ungewöhnlich lange in einem Tunnel bleibt, den er sonst nie sonderlich bemerkt hat. Seine Unruhe wächst, aber die Mitreisenden sind nicht beunruhigt. Auch der Schaffner versichert ihm, dass alles in Ordnung sei. 

Der 24-Jährige fragt sich zum Zugführer durch. Der kann sich den langen Tunnel nicht erklären. Gemeinsam kämpfen sie sich zur Lokomotive vor. Der Führerraum ist leer, der Lokomotivführer ist schon nach fünf Minuten abgesprungen. Der Zugführer aber blieb an Bord, aus Verantwortungsgefühl für die Reisenden und weil er, wie er sagt, "immer ohne Hoffnung gelebt" habe. Die Lokomotive gehorcht nicht mehr, die Notbremse funktioniert nicht, und der Zug rast immer schneller und schneller in den dunklen Abgrund.

"Was sollen wir tun", fragt der Zugführer verzweifelt. "Nichts", antwortet ihm der 24jährige, "ohne sein Gesicht vom tödlichen Schauspiel abzuwenden." "Gott ließ uns fallen, und so stürzen wir denn auf ihn zu."

Interpretation

Dürrenmatts fantastische Geschichte beschreibt den urplötzlichen, unerklärlichen Einbruch des Schreckens in den Alltag. Der Zug ist ein Symbol für das in festen Bahnen verlaufende Leben der Menschen, die die sich abzeichnende Katastrophe nicht wahrhaben wollen, sondern sich auf die Alltäglichkeit verlassen.

Die Hauptperson der Geschichte, der 24jährige Student, dessen Namen der Leser nicht erfährt, ist anders: Vielleicht seine einzige Fähigkeit ist, "das Schreckliche hinter den Kulissen" zu sehen. Er verschließt bewusst alle Körperöffnungen, verstopft sich die Ohren mit Watte, trägt über der Sehbrille eine Sonnenbrille und raucht Zigarren, die ihn offenbar beruhigen. Er tut das, um zu verhindern, dass das Schreckliche hereindringt. Am Ende sieht er dem kommenden Tod mutig ins Auge, wendet den Blick nicht ab.

Theologische Interpretation

Im letzten Satz gibt der Protagonist eine theologische Interpretation ab und verleiht dadurch dem absurden, unverständlichen Geschehen zumindest den Hauch einer Bedeutung: Auf den Alltag, die Technik und die dahinterstehenden Naturgesetze sei nur so lange Verlass, wie Gott uns in seiner Hand halte. Danach sind der Alltag und die Naturgesetze, das eigene Leben, nur der Gnade Gottes zu verdanken.

Diese Deutung des Studenten verschiebt das Problem ins Theologische, indem er das unverständliche Geschehen als Willen Gottes deutet. Dies macht es nicht weniger unverständlich. Denn der Wille Gottes bleibt unklar, der Protagonist kann selbst nicht sagen, ob es eine Strafe ist, und wenn ja, wofür die Menschen im Zug bestraft werden, oder worauf das "Fallenlassen" sonst zurückzuführen sein könnte. Die Reisenden stürzen, so glaubt der Student, nicht in die Hölle, sondern auf Gott zu, den der Student in der Dunkelheit vermutet: Ein deus absconditus, dessen Absichten und Zwecke dem Menschen unerklärlich bleiben.

Auktoriale Perspektive

Die Geschichte ist aus auktorialer Sicht geschrieben. Dies wird schon im ersten Satz deutlich:

"Ein Vierundzwanzigjähriger, fett, damit das Schreckliche hinter den Kulissen (das war seine Fähigkeit, vielleicht seine einzige) nicht allzu nah an ihn herankomme, der es liebte, die Löcher in seinem Fleisch, da doch gerade durch sie das Ungeheuerliche hereinströmen konnte, zu verstopfen, derart, dass er Zigarren rauchte (Ormond Brasil 10) und über seiner Brille eine zweite trug, eine Sonnenbrille, und in den Ohren Wattebüschel: Dieser junge Mann, noch von seinen Eltern abhängig und mit nebulösen Studien auf der Universität beschäftigt, die in einer zweistündigen Bahnfahrt zu erreichen war, stieg eines Sonntagnachmittags in den gewohnten Zug, Abfahrt siebzehnuhrfünfzig, Ankunft neunzehnuhrsiebenundzwanzig, um anderentags ein Seminar zu besuchen, das zu schwänzen er schon entschlossen war."

Puh, was für ein Satz! Der Anfang der Geschichte könnte, dem Stil nach, auch von Thomas Mann sein, so lang, klammernreich und umständlich ist er geschrieben. Dürrenmatt parodiert hier offensichtlich Thomas Manns "Zauberberg", der ebenfalls mit der Zugfahrt eines jungen Mannes, der gerne Zigarren raucht - allerdings Maria Mancini, nicht Ormond Brasil 10 - beginnt.

Friedrich Dürrenmatt

Der Schweizer Dürrenmatt, geboren 1921, begann 1943 mit dem Schreiben.

Er produzierte Kriminalromane (Der Richter und sein Henker, 1952, Der Verdacht, 1953, Die Panne, 1956), Hörspiele und vor allem Dramen (z.B. Romulus der Große, 1950, Der Besuch der alten Dame, 1956, Die Physiker, 1962) in der desillusionistischen Tradition Brechts und Thornton Wilders. Kurzgeschichten stehen eher am Rande. Er erhielt 1986 den Büchner-Preis. Dürrenmatt starb 1990.

Bibliographisches

Kommentare

Leserbrief von Annegret Bittner vom 24. November 2006:

Mir liegt ein aktuelles Diogenes-Taschenbuch (Der Hund, Der Tunnel, die Panne) vor, in dem es Hinweise auf einen geänderten Schluss im Anhang gibt. In der überarbeiteten Fassung von 1978 entfällt der Satz am Schluss: "Gott ließ uns fallen, und so stürzen wir denn auf ihn zu." Inwieweit der Schluss und damit das Unglück somit als Wille Gottes interpretiert werden kann, sehe ich durch die Korrektur Dürrenmatts bewusst geändert. Der Dichter wollte dies offen lassen, oder?


Letzte Änderung: Februar 2007

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