Leixoletti.de
Kurzgeschichten und Interpretationen
Startseite > Kurzgeschichten-Interpretationen > Albert Camus: Der Gast

Albert Camus: Der Gast

- Inhaltsangabe und Interpretation -

Der Existenzialist Camus zeigt, wie man auch im Krieg Mensch bleiben und seine eigenen Entscheidungen treffen kann.

Inhaltsangabe

Zwei Männer nähern sich der einsam gelegenen Schule am Rande der algerischen Wüste, einer zu Pferd, der andere zu Fuß. Als sie näher kommen, erkennt der frankoalgerische Lehrer Daru seinen Bekannten, den Polizisten Balducci, und einen Araber.

Der Araber ist ein Gefangener, er soll seinen Vetter wegen einer nicht bezahlten Schuld umgebracht haben. Balducci sagt Daru, er solle den Araber am nächsten Tag 20 Kilometer weiter in das Dorf Tinguit bringen. Es sei fast schon Krieg, und da wären alle in gewissem Sinn rekrutiert.

Daru weigert sich, weil er Lehrer sei, kein Polizist. Balducci lässt den Gefangenen dennoch da und stellt Daru es frei, zu gehorchen oder sich zu widersetzen. Dann kehrt der Polizist, seinen Befehlen gemäß zur Polizeistation zurück.

Daru isst mit dem Gefangenen. Er ist wütend auf die Tat des Arabers, über den Mord, aber andererseits sieht er in dem Gefangenen den Mitmenschen. Der Lehrer wäre froh, wenn der Araber entfliehen würde. Dann gehen sie zu Bett. Daru kann nicht schlafen, die Anwesenheit des Arabers stört ihn, er hat Angst vor ihm.

Den Araber auszuliefern, geht gegen Darus Ehrgefühl, und als die beiden am nächsten Tag aufbrechen, hat er seine Entscheidung gefällt: Er wird den Araber vor die Wahl stellen: Gefängnis oder Freiheit. 

Er zeigt dem Araber die beiden Wege, zu seinen Stammesbrüdern und zur Polizeistation, gibt ihm Lebensmittel und etwas Geld und überlässt ihn sich selbst. Er sieht, dass der Araber zuerst unentschlossen dasteht, dann aber den Weg zum Gefängnis einschlägt. Zurückgekehrt, sieht Daru die Drohung von arabischen Widerstandskämpfern an der Tafel: "Du hast unseren Bruder ausgeliefert, das wirst du büßen."

Interpretation

Die Geschichte spielt kurz vor Beginn des Algerienkriegs (1954-62), in dem die algerischen Einheimischen gegen die französiche Besatzungsmacht fü,r ihre Unabhängigkeit kämpften. Doch Camus geht es nicht primär um die historische Situation, sondern um die Situation des Menschen im allgemeinen. Er nutzt den Zeithintergrund, um das Verhalten gegenüber der staatlichen Autorität zu beleuchten.

Der Lehrer Daru ist als Beamter zwar gegenüber dem französischen Staat zu Loyalität verpflichtet, aber nicht zu dem Dienst, den Balducci von ihm fordert. Er ist zuerst unschlüssig, folgt aber dann nicht dem Befehl, sondern seinem Gewissen. Daru benutzt den Mord nicht als bequeme Rechtfertigung für Gehorsam, sondern geht seinen eigenen Weg.

Freie Entscheidung

Auch dem Araber verlangt Daru eine freie Entscheidung ab. Er sagt ihm nicht: Verschwinde, lauf zu deinen Stammesgenossen. Er bringt ihn auch nicht zur Polizei, sagt ihm nicht einmal, er solle dorthin gehen. Er lässt ihm die freie Wahl. Obwohl der Araber ein Mörder ist und eine Gefängnisstrafe vielleicht verdient hat, lässt Daru ihm die Wahl.

Daru wird klar: In diesem wüsten Land ist er allein zwischen den Fronten. Er steht als Individuum allein, läuft Gefahr, im Krieg zwischen ihnen zerrieben zu werden, entweder von den Franzosen wegen seines Ungehorsams oder von den Algeriern wegen des Missverständnisses, dass er einen Araber an die Polizei ausgeliefert habe.

Die Geschichte könnte ihrer Zielrichtung nach auch von Sartre stammen. Denn nach Sartre ist der Mensch verurteilt zur Freiheit - genau wie Daru den Araber zur freien Entscheidung verdammt. Camus sieht den Menschen eher mit der Sinnlosigkeit konfrontiert. Sinnlos erscheint Daru das Verbrechen des Arabers: "Das sinnlose Verbrechen dieses Mannes empörte ihn...". Nach Camus' Weltbild kann der Mensch seine absurde Situation überwinden, indem er sich seinen Mitmenschen solidarisch zuneigt. Das tut Daru. Dennoch ist er als Individuum allein gelassen.

Camus benutzt die personale Er-Perspektive und erzählt die Geschichte aus der Sicht des Lehrers. Dabei verfällt er jedoch einmal in die auktoriale Erzählhaltung: "Daru, klein und vierschrötig in seinem dicken Sweater....". Ein weiterer Kritikpunkt: Es wird nicht ganz klar, wann ein Araber die Möglichkeit hatte, die Drohung gegen Daru an die Tafel zu schreiben. Außerdem passen die Entfernungsangaben nach Tinguit nicht zusammen: Der Araber sagt Daru, es wären zwei Stunden dorthin, aber Balducci spricht von 20 Kilometern.

Albert Camus

Der frankoalgerische Philosoph und Schriftsteller ist auch als Prosa-Schriftseller geprägt vom Existenzialismus. Er arbeitete zunächst als Journalist, Schauspieler und Regisseur. Nach einem sozialkritischen Artikel aus Algerien ausgewiesen, ging er nach Paris, gehörte zur Resistance. 1960 kam er bei einem Autounfall ums Leben.

Bibliographisches

Letzte Änderung: April 2003

http://www.leixoletti.de

E-Mail: webmaster@leixoletti.de

© Stefan Leichsenring. Alle Rechte vorbehalten.