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Julia Franck: Bäuchlings

- Inhaltsangabe und Interpretation -

Mit dieser erotischen Geschichte macht Julia Franck vor, wie eine Story auch ohne Botschaft auskommt. Und wie sexuelle Phantasien und Wirklichkeit verschwimmen können.

Inhaltsangabe

Die Ich-Erzählerin lebt mit ihrer Schwester Luise in einer Wohnung am Berliner Zionskirchplatz. Am Morgen nach Luises Geburtstag schläft Luise ihren Rausch aus, die Ich-Erzählerin bewundert sie, wie sie bäuchlings auf dem Sofa liegt. Sie liebt Luise.

Es klingelt, die Ich-Erzählerin zieht das Lederbustier von Luise an, streift ihr eigenes Kleid darüber, und öffnet. Es ist Luises Freund Olek, der am Vorabend nicht anwesen war, weil Luise ihn ausgeladen hat. Er will Luise sprechen, weil der Hund, den sie ihm anvertraut hat, angefahren wurde. Er erscheint ihr unruhig, sie muss an die beiden Liebhaber denken, die Luise den Vorabend versüßt haben.

Die Ich-Erzählerin geht zu Luise, erzählt aber nichts von dem Hund, weil sie ihr die schlechte Nachricht ersparen will. Sie denkt an früher, als Luise den Hund mit Lammhäppchen fütterte, während die Ich-Erzählerin nichts abbekam. Luise will Olek nicht sehen, weil sie sich schlecht fühle und keine Lust habe.

Sie geht wieder hinaus zu Olek in die Küche und sagt, Luise sei verkatert, könne nicht mit ihm sprechen. Olek glaubt ihr nicht recht, fragt, ob Luise allein sei. Sie sagt, natürlich ist sie allein. Sie bietet ihm etwas zu trinken an, er sieht an ihren nackten Beinen hinunter und fragt, ob sie etwas unter dem Kleid anhabe. Sie stellt sich vor, wie Olek die glatte Haut zwischen Luises Beinen sieht. Sie beantwortet die Frage nicht, worauf er sie an die Spüle drückt, ihren Hintern betastet. Die Ich-Erzählerin stellt sich vor, er täte das mit Luise, stellt sich vor, er dringe in Luise ein, dann ist sie wieder sie selbst, dann steht plötzlich Luise in der Küchentür.

Die beiden trennen sich, Olek spricht im Gang mit Luise. Luise reagiert abweisend auf seine Entschuldigungen und Bitten, schickt ihn weg.

Als er gegangen ist, fordert Luise die Ich-Erzählerin auf, mit ihr in die Badewanne zu steigen. Die stellt sich vor, wie Luise sich nackt in das heiße Wasser hockt, dann noch einmal aufsteht und ihr den Reißverschluss öffnet, sie berührt.

Interpretation

An dieser Geschichte gibt es kaum etwas zu interpretieren. Aber gerade das macht sie interessant: Die Story kommt ohne eine erkennbare "Botschaft" aus. Es ist eine sehr erotisch gefärbte Geschichte, in der die Beziehungen zwischen Luise, der Ich-Erzählerin, Olek und zwei weiteren Männern kunterbunt durcheinander gehen. Die lesbische Beziehung zwischen den beiden Schwestern, der abgelegte Liebhaber Olek, die zwei Vergnügungsmänner – das alles zeichnet eine mit Gefühlen aufgeladene Atmosphäre.

Die Ich-Erzählerin liebt Luise und ist eine Spur eifersüchtig auf andere Liebhaber ihrer Schwester. Deswegen amüsiert sie sich über Oleks Eifersucht. Die Episode von dem Hund, auf den die Ich-Erzählerin ebenfalls eifersüchtig war, beleuchtet diesen Aspekt zusätzlich.

Der Reiz der Geschichte liegt in den guten Beschreibungen. So beginnt die Geschichte mit einer Beschreibung der schlafenden Luise in Nahaufnahme.

Luise schmatzt im Schlaf, ganz leise, fast unhörbar. Ich streiche über den Saum des Chiffons, der rau ihren Hals umschließt, rieche sie, ihren vertrauten Geruch, der mich an frisch geschnittenes Gras erinnert, ziehe die rotblonde Locke aus der Falte, die sich am Hals gebildet hat, und suche die glatte Haut ihrer Wangen ab – ob sich schon im entspannten Zustand eine Spur ihrer Grübchen entdecken lässt? – ihre Haut ist von blassen Sommersprossen übersät. Ich liebe Luise. Und noch etwas: Sie ist meine Schwester.

Die Geschichte ist so erzählt, dass man vergisst, dass sie erzählt wird: Die Ich-Erzählerin verschwindet hinter den Vorgängen. Deswegen verwendet Franck das Präsens.

Interessant sind die Übergänge zwischen Phantasie und Wirklichkeit: Die beiden Bereiche verschwimmen, so stark, dass man als Leser nicht immer weiß, was "wirklich" passiert, zum Beispiel, als Olek die Ich-Erzählerin mit deutlicher Absicht an die Spüle drückt und diese sich vorstellt, er täte das mit Luise. Hier verschmilzt die Ich-Erzählerin mit Luise, man weiß nicht genau, ob der Geschlechtsverkehr vollzogen wird oder nicht. Oder am Schluss, als Luise sie auffordert, mit ihr zu baden:

Ich könnte ihr folgen – sehen, wie sie ihr blaues Hemd im Flur fallen lässt und im Bad verschwindet. Sie hockt sich in das heiße Wasser, das schnell ihre Haut rötet, die Brustspitzen kräuseln sich, sie werden kleiner und fester. Dann steht sie noch einmal auf ..."

Auch hier steht nur im ersten Satz ein Konjunktiv, bei dem Rest (es geht noch weiter) ist unklar, ob die Ich-Erzählerin den Konjunktiv wahr macht.

Aus Autorensicht

Die Geschichte ist sehr anschaulich geschrieben, sehr sinnlich, und hat einen erotischen Reiz. Darin, nicht in einer Botschaft, liegt ihre Wirkung. Der Untertitel des Erzählbandes, aus dem sie stammt, passt auf diesen Text: Geschichten zum Anfassen. Man merkt, dass sich Franck Mühe gegeben hat mit ihren Beschreibungen, dass alle Sinne etwas zu spüren bekommen.

Der Satz: Und noch etwas: Sie ist meine Schwester ist der einzige, der darauf hinweist, dass die Geschichte erzählt wird. Es scheint ein Satz zu sein, der sich an den Leser richtet – ein Stilbruch.

Julia Franck (*1970)

Die geborene Ostberlinerin reiste 1978 mit ihrer Familie aus der DDR aus. Sie lebt mit ihren zwei Kindern in Berlin. Franck gehört wohl zum vielbeschworenen deutschen "Fräuleinwunder", wie Judith Hermann, Tanja Dückers oder Julie Zeh. 1997 erschien ihr Debütroman "Der neue Koch", 1999 der Roman "Liebediener", 2000 der Erzählband "Bauchlandung" und zuletzt 2003 der dritte Roman, "Lagerfeuer". Für "Mir nichts, dir nichts", die letzte Erzählung aus ihrem Erzählband, bekam Franck im Jahr 2000 einen Preis bei den Klagenfurter Literaturtagen.

Bibliographisches

Letzte Änderung: September 2004

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