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Arno Schmidt: Nachbarin, Tod und Solidus

- Inhaltsangabe und Interpretation -

Eine Geschichte von dem umstrittenen Querdenker Arno Schmidt: Nicht eben einfach zu verstehen, aber umso interessanter zu deuten.

Am Titel dieser Geschichte hing ich fest. Das Wort Solidus hatte mich in seinen Bann gezogen. Als gelernter Chemiker verbinde ich damit eine – im Lauf der Jahre etwas unklar gewordene – Vorstellung von gekrümmten Linien in Schmelzdiagrammen. In meinem dicken Duden-Universalwörterbuch steht das Wort nicht drin. Aber da: Wikipedia hat die Antwort: eine römische Goldmünze! Mit fortschreitender Geldentwertung wurde er zum französischen Sou, sagt Wikipedia. Lustig, aber was eine solche Münze mit dem Tod und einer Nachbarin zu tun haben könnte, wollte ich dann doch wissen und las die kurze Geschichte von dem großen deutschen Querdenker Arno Schmidt.

Inhaltsangabe

Von Schlaflosigkeit geplagt, tritt der Erzähler frühmorgens ans Fenster und bemerkt, dass seine Nachbarin, eine Soldatenwitwe, ebenfalls in die Nacht hinaussieht. Sie öffnen die Fenster und unterhalten sich. Der Ich-Erzähler möchte mit ihr anbandeln und versucht, ein Gespräch mit ihr anzufangen. Er finde den Gedanken an den Tod tröstlicher als den an ein ewiges Leben, sagt er. Die Soldatenwitwe erwähnt die zwei Weltkriege, Flüchtlingselend und Inflation und stimmt ihm zu. Der Erzähler holt eine Golfmünze herbei, einen Solidus aus der Zeit des spätantiken Kaisers Justinian und erzählt, wie sie in seinen Besitz kam.

Der Großvater des Erzählers war Arzt in Fiume. Eines Abends kommt ein Fremder zu ihm und berichtet, er hätte nach einer Orientreise seine Goldmünzen-Sammlung verschluckt, um sie vor dem Zoll zu verstecken. Jetzt, nach drei Tagen, hielte er die Schmerzen nicht mehr aus. Der Arzt verspricht, ihn zu operieren und verlangt dafür die Hälfte der Goldmünzen. Der Fremde stimmt widerwillig zu. Der Arzt spritzt ihm ein starkes Abführmittel und Morphium. Als der Fremde im Betäubungsschlaf liegt, entleert der Doktor ihm den Darm und findet die Münzen. Als der Fremde wieder erwacht, wird geteilt. Im Anteil des Großvaters ist auch der Solidus, den er später dem Ich-Erzähler zur Konfirmation schenkt. Die übrigen Münzen hat der Großvater wahrscheinlich mit ins Grab genommen, so der Erzähler weiter.

Damit endet die Erzählung. Der Berichterstatter und seine Nachbarin aber lehnen von nun an öfter in ihren Fenstern. Sie erzählen von sich und warten weiter auf den Tod.

Interpretation

Schmidt verwendet die für ihn typische Zeichensetzung: Die vielen Interpunktionszeichen werden ungewohnt und zum Teil orthografisch falsch gesetzt. So macht Schmidt einen Leerschritt vor dem Doppelpunkt, vor dem Frage- und vor dem Ausrufungszeichen, oder einen Doppelpunkt nach dem Fragezeichen. Diese etwas stilisierte Schreibweise soll den Klang der Sprache wiedergeben. Jedenfalls fällt der Unterschied zwischen der unkonventionellen Interpunktion und der traditionellen Erzählweise auf. Zu den traditionellen Erzählmustern gehört der Aufbau aus Rahmen- und Binnenhandlung, wie sie schon Tschechov im 19. Jahrhundert oft einsetzte. Rahmenhandlung wie auch die Binnenerzählung (vom dramatischen Präsens zu Beginn abgesehen) sind im Imperfekt gehalten, dem klassischen Tempus für eine Erzählung. Manchmal greift Schmidt auch auf Wendungen zurück, die so alt sind, dass sie längst zum Klischee erstarrt sind. Ein Beispiel: Eines windigen und kühlen Abends klopft es an seine Tür : ein breitgewachsener Fremder geht ächzend herein, die Hand auf dem Magen. Eines windigen und kühlen Abends: Da muss man an Snoopys schriftstellerische Versuche denken. Diese Versatzstücke verwendet Schmidt, um einen Verfremdungseffekt zu erreichen.

Rahmenhandlung und Binnenerzählung

Die Rahmenhandlung spielt in der Gegenwart und gibt vor allem den Anlass für den Bericht von der Darmoperation. Letztere wird als Exempel erzählt: Der Ich-Erzähler stellt eine Behauptung auf und beweist sie mit der Geschichte vom Solidus. Der Zusammenhang zwischen Geschichte und These ist allerdings auf den ersten Blick nicht ohne weiteres erkennbar. Ohne den Hinweis "und holte als Beleg die Münze" wäre der Zusammenhang völlig unklar.

Gold als Symbol

Was also bedeutet diese Geschichte und warum wird sie erzählt? Die mit der Geschichte Beglückte ist Witwe, deshalb vermutet der Erzäahler, dass er am ehesten über mit tröstlichen Worten zum Thema Tod an sie herankommt. Die Geschichte ist ein Gleichnis: Gold ist für seine Beständigkeit bekannt, und so konnte die Münze viele Jahrhunderte überdauern. Der Solidus taugt deshalb als Symbol für die Ewigkeit, für das ewige Leben. Was die Münze aber in ihrem langen Leben durchmachen muss, und mit ihr wahrscheinlich Kaiser Justinian, der wohl auf ihr abgebildet ist, möchte man niemandem wünschen: Sie steckt im wörtlichen Sinn in der Sch...

Plädoyer für Todessehnsucht?

Ist Schmidts Kurzgeschichte also ein Plädoyer für Schicksalsergebenheit, dafür, den Tod herbeizusehnen? Nur, wenn man nicht bis zum Ende liest. Der pointenhafte Schlusssatz gibt der ganzen Geschichte eine andere Wende: Wir lehnten von da ab ziemlich regelmäßig in unseren Fenstern; erzählten uns schlaff voneinander; und warteten weiter auf den Tod. Dieser Schluss könnte auch bedeuten: Nur die langweilige Art, das öde Leben der beiden Protagonisten ist der Grund für die Todessehnsucht, nicht etwa der Krieg oder die Inflation. Letztendlich bleibt der Schluss in diesem Punkt offen.

Aus Autorensicht

Für mich war die Geschichte anfangs wie ein Rätsel. Sie ist nicht einfach zu verstehen, und erst nach längerem Nachdenken kam ich auf den Zusammenhang zwischen der Goldmünze und dem Tod. Nichts gegen Rätsel in Geschichten, aber sie sollten lösbar sein, sonst ist der Leser frustriert. Meiner Ansicht nach ist Schmidt hier über das Ziel hinausgeschossen, die Story ist zu schwierig zu "lösen". Seine Schreibweise mit der seltsamen Interpunktion erscheint wie das Relikt einer anderen Zeit. Schmidt schrieb die Geschichte schon 1956 – damals war das sicher eine Provokation. Heute, nach den kleinschreibexperimenten der 70er-Jahre wirkt es antiquiert. Warum Schmidt dazu noch auf ein so verstaubtes Erzählmuster wie die Rahmenerzählung zurückgreift, ist mir unklar.

Arno Schmidt

Im Jahr 1914 in Hamburg geboren (wie die Nachbarin in der vorliegenden Geschichte), arbeitete Schmidt nach dem Abitur als Angestellter in der Textilindustrie. 1940 wurde er zur Wehrmacht eingezogen und geriet in britische Kriegsgefangenschaft. Seit 1958 lebte Schmidt im Heidedorf Bargfeld. Schmidt schrieb zahlreiche Prosawerke, darunter "Die Gelehrtenrepublik" (1957) und das megalomanische Hauptwerk "Zettels Traum" (1970). Er eroberte eine kleine, aber enthusiastische Lesergemeinde, die sogar eine Zeitschrift zu seinem Werk, den Bargfelder Boten, herausgab. Im Literaturbetrieb galt er jedoch als Außenseiter. Arno Schmidt starb 1979 in Celle.

Bibliographisches

Letzte Änderung: November 2005

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