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Nebenfrauen und Apfelbutzen


Eine neuere Geschichte über die Umstände in einer Familie
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Claudia kannte keine Ingeborg. Es war noch nie die Rede gewesen von einer Ingeborg. Und diese Ingeborg erkundigte sich nach ihrem Vater? Claudia hatte nachgefragt. Diese Ingeborg war ins Stottern gekommen: "Wir sind ..., ich meine Detlef und ich, wir sind ... Sie sind wahrscheinlich die Tochter, ja? Wir sind sozusagen ..."

Die Hand, mit der sich Claudia den Telefonhörer gegen die Wange hielt, wurde langsam heiß.

"Achso", sagte sie absichtsvoll trocken. "Er ist im Krankenhaus."

Nach dem üblichen Ogott und Was-ist-denn fragte die neue Ingeborg, ob man ihn besuchen könne.

"Natürlich. Natürlich kann man ihn besuchen. Das heißt ..." Claudia stockte. Wenn diese Ingeborg zu Pappa ging, dann konnte sie Susanne begegnen, mit absehbaren Konsequenzen.

"Am besten ist es, Sie besuchen ihn am Nachmittag. Vormittags ist zuerst Visite, dann Waschen und so." Claudia wusste nicht, wie der Tagesablauf ihres Vaters wirklich aussah. Aber diese Ingeborg durfte nicht Susanne begegnen. Und Susanne hatte Dienst am Nachmittag.

Claudia legte auf. Gut hatte sie das gemacht! Geschickt hatte sie die beiden Frauen voneinander ferngehalten, und ihrem Vater eine Menge Ärger erspart. Sie merkte, dass ihre Hand noch immer auf dem Hörer lag. Sie zog sie weg und stützte ihre heiße Wange darauf.

Ingeborg und Susanne, dachte sie, das ging doch nicht gleichzeitig. Zwei Frauen auf einmal. Ihr Vater war verrückt. Und sie selber auch ein bisschen. Sie hatte Lügen verbreitet, geschickte Lügen zwar, aber Lügen. Und das auch noch, um ihren Vater zu beschützen. Sie, mit ihren sechzehn Jahren, beschütze ihren Vater! Wie kam sie dazu?

Claudia stand auf und ging hinüber in die Küche, griff nach einem Apfel und biss hinein. Sauer. Sie zog eine Grimasse und überlegte kurz, ob sie den Bissen ausspucken und den Apfel einfach wegwerfen sollte. Aber nein. Die armen Kinder in Afrika, die reichen Gernleder-Töchter. Claudia schlang den letzten Bissen hinunter und warf den Stängel in den Biomüll.

Einem plötzlichen Impuls nachgebend, zog sie ihre Turnschuhe an, suchte eine Trambahnkarte heraus und fuhr ins Krankenhaus zu ihrem Vater. Sie würde ihn zur Rede stellen.

***

"Das geht dich nichts an", sagte sein roter Kopf, vom angewinkelten Ende des Bettes her.

"Wie bitte?" Claudia schlug sich die flache Hand vor die Stirn. "Bin ich deine Tochter oder nicht?"

"Was hat das damit zu tun?"

"Sehr viel", antwortete sie. "Oder glaubst du, deine Tochter hat kein Recht, sowas zu wissen? Du bist schrecklich. Eine Frau hat jeder, jeder von deinen blöden Angestellten. Für dich reicht das natürlich nicht."

"Claudia, jetzt gehst du zu weit. Erzähl mir lieber, was du Ingeborg gesagt hast."

"Ich hab schön brav alles in Ordnung gebracht", antwortete Claudia. "Hab ihr gesagt sie soll nicht vor eins kommen."

Sein Oberkörper fiel erleichtert auf das Bett zurück.

"Gut gemacht, Claudia."

"Ja, gut gemacht, Claudia!"

Ihr reichte es. Sie sprang auf und rannte zum Fenster. Eine Schwester kam herein und fragte, ob sie störe. Claudias Vater sagte nein, und so wurde hinter ihr quietschend ein Rollwagen hereingeschoben. Claudia wandte sich nicht um, sondern starrte weiter hinaus ins Grüne.

Es klapperte hinter ihr, die Schwester drückte im WC die Spülung. Claudia öffnete das Fenster und atmete einige Züge von der Ruhe dort draußen. Das Zimmer ging auf einen weiten, bepflanzten Innenhof hinaus. Eine paar uralte Eschen standen dort Spalier, gewaltige Stämme mit rauer, rissiger Borke. Die Bäume waren in Augenhöhe auf groteske Weise verdickt. Dazwischen schlich eine Katze dahin, sie hatte rasierte Hinterbeine und setzte eines davon nicht auf. Die Katze blieb mit einem Mal stehen, als hätte sie Claudias Blick bemerkt, und sah zu ihr herüber. Plötzlich hatte Claudia den Eindruck, das Tier wäre ein Teil ihres Vaters, und er Vater sähe ihr aus Katzenaugen entgegen: alt, lahm und verkrüppelt. Nach einiger Zeit lief die Katze weiter, verschwand aus Claudias Blickfeld.

Etwas ruhiger geworden, wandte sich Claudia um und sah ihren Vater an. Er war eben so: nur ganz dünne Gefühle für die Menschen. Aber er war alt, und sie würde ihn nicht mehr ändern. Und ohne Nieren war er ziemlich übel dran jetzt. Milde überkam sie, gefolgt von einem seltsamen Gedanken, eine Idee vom Tausch von Nieren gegen Frauen.

"Schon komisch", meinte Claudia und kicherte. "Du hast keine einzige Niere mehr, aber dafür zwei Frauen."

Ihr Vater runzelte die Stirn, bevor er begriff. "Ach so", sagte er und nickte lächelnd. "Ja, so geht’s manchmal. Vom einen zu wenig, vom andern zuviel. Aber danke nochmal, dass du mich nicht hast auffliegen lassen."

"Nächstens muss ich dir noch eine Nutte ans Bett bringen", sagte Claudia.

"Gute Idee", sagte ihr Papa. Er gab ihr einen Apfel auf den Nachhauseweg mit. Draußen biss sie hinein, warf ihn aber gleich in ein Gebüsch: Er schmeckte nicht.

(Mai 2004 - Juli 2005)

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