Die McDonald's-Oase
Eine neue Geschichte, die ich von meiner letzten größeren Reise mitgebracht habe
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"Das ist nicht dein Ernst", sagt Miri, als wir vor einer Wand stehen, auf die ein gelber Buchstabe gepinselt ist. Aber ich deute auf meine Füße, und sie lässt sich erweichen.
Ein Mann in Phantasieuniform hält uns die Glastür auf. "Happy New Year", sagt er und lächelt unter seinem Schnurrbart, als wir an seinen weißen Gamaschen vorbeistolpern. Es ist alles ein bisschen anders als daheim, auch die Speisekarte: McAloo Tikki, Paneer Salsa Wrap, McVeggie.
Aber meine Gedanken sind woanders, ich ziehe sie hinter mir her wie eine Schleppe. Die Schleppe der vergangenen Nacht war wie ein Kartoffelsack. Nur mühsam durchdrang das Licht der Straßenlampen den bräunlichen Dunst. Die Straßen verstopft, das Taxi im Stau, Kleinwagen mit angeklappten Außenspiegeln, rundliche Ambassador-Limousinen und mit Blumen geschmückte Lastwagen versperrten uns die Aussicht. Um drei Uhr morgens fielen wir in ein Hotelbett.
McAloo Tikki, Paneer Salsa Wrap, McVeggie: Ich versuche, mich wieder auf die Speisekarte zu konzentrieren. Wir bestellen zwei große Cola und ich frage, was McAloo Tikki ist.
"It's a fried breaded potatoe and peas patty with a special spice mix and tomatoes", erklärt mir der Busche. Ich lasse es mir wiederholen: "It's a fried breaded potatoe and peas patty with a special spice mix and tomatoes."
Bei mir bleiben Kartoffeln, Tomaten und Gewürze hängen. Wir nehmen einen McChicken für Miri und einen Kartoffelburger für mich – die Mischung hat mich neugierig gemacht. Indische Gewürze zwischen Boden und Deckel eines amerikanischen Sesambrötchens. Alles durcheinander. Wie in der Gasse heute mittag, als wir aus dem Hoteldämmer in die Mittagssonne hinausstolperten.
Wägelchen, an denen Männer ohne Hemd Gemüsetaschen frittieren, Zwiebelgerüche und süßer Gewürzgeruch in der Luft. Daneben Straßenhändler mit Cola, Sprite und Mineralwasser. Ein Mann, der sich in einer Pfütze die Haare wäscht. Ein Häufchen qualmender Gemüseabfall, herrenlose Hunde im Staub mit sichtbaren Rippen. Wir gehen ein paar Schritte und werden angehupt. Wir springen zur Seite und sind plötzlich Gehetzte. Zwängen uns zwischen zwei parkenden Fahrradrikschas hindurch, die Fahrer rufen "Connaught Place, Sir", "ten Rupees only, Sir", "yes Sir, yes, come!", wir fliehen, taumeln über Schlaglöcher hinweg, treten in Pfützen.
Und dann der Mann in der Fußgängerunterführung: Die eine Schulter sieht aus wie die faule Stelle einer Zwiebel. Schnell ziehe ich Miri weiter, damit er uns seinen verbliebenen Arm nicht um die Knie schlingt. Kaum von ihm weg, sehen wir einen Zweiten, nur ein Oberkörper auf einem Rollbrett, inmitten des Getümmels aus Autos, Rikschas und Bussen.
Ich wische mir die Erinnerung aus den Augen. Sie brennen von dem schwefligen Dunst Delhis. Auch meine Kehle schmerzt von dieser Stadt. Zwischen Daumen und Zeigefinger hat sich aus dem sauren Niederschlag der Luft ein klebriger Belag gebildet.
Inzwischen ist der Junge hinter der Theke fertig. Er stellt die Sachen auf ein Tablett. Ich nehme es und will zu unserem Tisch, aber in dem Moment, wo ich die Drehung beginne, weiß ich, es ist zu schnell. Es geht alles zu schnell hier, der Oberkörper auf dem hin- und herflitzenden Holzbrett, die hinter uns herjagenden Rikschas, der holzbraune Zwiebelrücken, der Mann mit dem Pfützenwasser im Haar. Es geht zu schnell, und deswegen ist die Balance weg. Deshalb kommen die beiden Becher auf dem Tablett ins Rutschen, kippen über den Rand; deshalb fallen sie, klatschen auf den Boden, die Deckel platzen ab, und eine braune Lache bildet sich auf den hellen Fliesen. Ein Burger kommt hinterher, es platscht noch einmal. Das Papier, in das der Burger eingewickelt war, bekommt langsam dunkle Flecken.
"I'll replace that", sagt eine Frau, die jetzt plötzlich neben mir steht. Sie hebt den Burger auf und trägt ihn zum Mülleimer. Ein anderer bringt die Cola-Lache zum Verschwinden, bevor ich gucken kann. Der von der Theke ist jetzt auch da. Plötzlich stehen sie alle um mich herum. Jemand sagt: "Take a seat, I will serve you, Sir." Ich stammele etwas und setze mich zu Miri.
Eine Minute später haben wir Cola und Burger vor uns, und die Angestellte bringt mir das Wechselgeld.
"Wahnsinn", sage ich. Meine Augen werden feucht, wobei sich der Grund dafür nicht sofort bestimmen lässt.
Ich wickle meinen Burger aus, er sieht vertraut aus. Ein Bratling mit Tomaten zwischen zwei Brötchenhälften. Nach ein paar Bissen sage ich: "Gute Idee, hier rein zu gehen."
Miris Augen funkeln auf einmal.
"Aber warum ausgerechnet McDonald's?", fragt sie.
"Hast du was anderes gesehen?", sage ich versuchsweise und denke mir dazu: Zu Hause brauchen wir das ja nicht zu erzählen. Ich blicke auf den Burger in meiner Hand. Ein Tomatenscheibchen quillt zwischen Brötchen und dem Bratling hervor. Ich stupse es zurück und ändere den Griff.
"Außerdem: An so einem Burger kann man sich irgendwie festhalten."
"Dauernd brauchst du was, an dem du dich festhalten kannst", meint Miri.
"Du hast ja mich dafür", sage ich und muss schmunzeln – es ist selten genug, dass ich schlagfertig bin.
"Phhh", macht Miri und schüttelt den Kopf. "An dir festhalten? Du zitterst ja immer noch."
Ich halte meine Hand waagerecht vor mich hin. Sie hat recht. Ich sehe weg. Wenn wir in ein indisches Lokal gegangen wären, denke ich... – und bin mitten in einem kleinen Angst-Tagtraum, in dem ein Kellner die Hauptrolle spielt. Er verlangt einen überhöhten Preis, und als ich mich beschwere, spricht er plötzlich nur noch Hindi. Es ist seltsam, denke ich, zum ersten Mal im Leben... Ich bringe den Satz nicht zu Ende. Stattdessen stelle ich fest, dass meine Augen schon wieder feucht werden.
Damit Miri nichts merkt, wende ich den Kopf ab. An der Wand rechts von unserem Tisch hängt ein Poster. Durch den Schleier vor meinen Augen sehe ich eine Gruppe von Palmen. Verschwommen wie eine Fata Morgana bilden sie einen grünen Fleck inmitten der Wüste, inmitten von Sand und Staub. Ich konzentriere mich auf die Palmen, fast höre ich sie im Wind säuseln, und versuche, mich zu entspannen.
(Januar 2005 - November 2005)
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