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Idylle


Ein jugoslawischer Soldat in Schwierigkeiten
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Krajcek suchte sich einen Busch aus, etwa 15 Meter von der kleinen Straße entfernt, die sich durch das Bergland schlängelte. Der bleigraue Herbsthimmel schien ihn nicht zu bedrücken. Solange es nicht regnete, könnte der Nachmittag gemütlich werden.

Er ließ seinen Karabiner ins Gras gleiten und erleichterte sich im Schutz des Buschwerks. Dann setzte er sich zu seinem Gewehr und packte die Butterstulle aus, die Anita ihm eingepackt hatte. Langsam zog er die beiden Brothälften voneinander ab und fühlte glücklich den Widerstand, den die Butter ihm entgegensetzte. Nicht alle in der Heimat konnten ihre Stullen so zusammenleimen lassen. In der Hauptstadt gab es angeblich schon seit längerem keine Milch mehr zu kaufen, auch wenn die Deutschen versuchten, die Bauern im Umland mit Gewalt zur Versorgung der Stadt zu zwingen. Denn die Bauern behielten in den mageren Kriegszeiten ihre Sachen lieber selbst, als sie für Geld abzugeben, das nichts wert war. Jeden Liter Milch müssten die Deutschen den Bauern abpressen, teilweise, so wurde erzählt, sei sogar die Wehrmacht angerückt, um das feindliche Vieh zu melken.

Die nebeneinander gehaltenen Brothälften ergänzten sich für Krajcek zu Anitas Gesicht. Er vertiefte sich darin wie manchmal in das blasse Original, das umrahmt war von der dunkelbraunen Rinde ihrer nackenlangen Haare. Er sog die Luft tief ein und klappte das Kriegsbrot wieder zusammen, schützte es in seinem leinenen Säckchen vor dem Schmutz der Erde. Er zog den eigentlichen Bewohner hervor, den das Brot verdrängt hatte: Ein russisches Feldglas. Eine Kostbarkeit, hatte sein Hauptmann gesagt. Aber für Krajcek, der die Dinge anders beurteilte als ein politisch denkender Hauptmann im Krieg, für Krajcek verdiente das Gesicht Anitas den Schutz des Säckchens tausendmal mehr als das kalte schwarze Ding, das nur dazu taugte, Männer zu sehen, auf die man schießen musste.

Es kostete Mühe, das schwergängige Gelenk des Fernglases abzuknicken, es war viel zu weit ausgespreizt, gerade richtig für die weit auseinander stehenden Augen eines mongolischen Steppenbewohners. Krajcek wohnte am Mittelmeer, in sanfter hügliger Landschaft, das war kleinformatiges Gelände, da reichte ein mitteleuropäischer Augenabstand. Eng beieinander liegende Augen konnten auch viel besser zwischen den Zweigen eines Bäumchens, zwischen dem dichten Blattwerk eines Strauchs durchblicken, um eine kleine serbische Straße zu beobachten, als es ein Mongole je gekonnt hätte.

Er blickte also durch das Glas auf das Sträßchen, ohne allzu großen Eifer, gelangweilt, uninteressiert, ohne dass er erwartete, etwas zu sehen. Das Fernglas landete recht schnell wieder im Gras, und er wandte sich wieder dem butterblassen Antlitz Anitas zu. Diesmal konnte er seine Leidenschaft nicht mehr zügeln, die Versuchung war zu stark. Diesmal beließ er es nicht bei der bloßen Bewunderung, er bis herzhaft ab und verspeiste langsam und genüsslich das Brot, jeden Bissen den hungernden Hauptstädtern widmend, die es weniger gut hatten als er und Anita.

Dann legte er seinen Kopf auf die verschränkten Arme, sah noch ein Weilchen in den Himmel und döste friedlich ein.

Nun, wie ist es im Krieg, wenn jemand friedlich eindöst? Er kann es bedauern. Obwohl der Nachmittag so idyllisch begann, wurde Krajcek unsanft geweckt.

Ach Krajcek, wir fühlen mit dir und allen jungen Soldaten oder Partisanen, die, in Gedanken an die Liebste, ein Gänseblümchen zwischen den Lippen, in den blauen Himmel schauen und in der Wärme eindösen. Ihr seid wie die Hirten im bukolischen Märchen, aber ihr seid gute Hirten zur falschen Zeit. So gut wir uns in Euch hineinversetzen können, so nah uns Eure friedlichen Gemütern sind – wir müssen Euch sagen, dass zur selben Zeit Soldaten in Stalingrad hungern und frieren. Sie liegen in zerschossenen Häusern hinter aufgetürmten Leichen und frieren sich die Zehen ab. Sie wärmen sich an Weihnachten an nichts als dem Schein von drei kleinen Wachskerzen vielleicht, die vor einem abgehauenen Bäumchen stehen.

Aber wir gönnen Euch Krajceks die Ruhe, Euch Enkeln Schwejks, soll es wenigstens ein paar Menschen im Krieg gut gehen. Krajcek, kleiner Tschetnik, Du weißt wahrscheinlich nichts von den Gräueln des jugoslawischen Krieges, von abgeschnittenen Ohrmuscheln und Geschlechtsteilen. Hoffentlich bleibt Dir das erspart. Als Deutsche gerade wollen wir Dich nicht dazu verpflichten, hinter Deinem Gewehr zu liegen und Dir die Augen zu zermartern nach Anzeichen für den herannahenden Feind. Wünschen wir Dir die Fortsetzung der Idylle! Wünschen wir Dir, dass es Dir gelinge, im gefährlichsten Augenblick zu entkommen. Du bist ein kleiner Bauer, noch nicht einmal das, Du sollst den Hof Deines Vaters einmal übernehmen, er hat keinen anderen Sohn als Dich. Was sollst Du auf Deutsche schießen, auf Leute, die Dir den Hof gar nicht streitig machen?

Aber wer sind wir, Dir zu raten? Unser Rat ist billig. Die frühere Besatzungsmacht sind wir, und wir raten Dir zum Pazifismus, zum geduldigen Ertragen der Besetzung? Das hieße, wir würden Dir raten, nicht auf unsere Väter oder Großvater zu schießen, damit sie uns zeugen und versorgen können. Raten wir Dir, Deine Pflicht zu tun? Dann empfehlen wir Dir, auf unsere Erzeuger und Erhalter zu schießen. Wir legen Dir deutsche Tugenden ans Herz, die Deutschlands Führer damals so nützlich fanden.

Hast Du jemals einen Eid geschworen? Dann könntest Du Dich, wärst Du ein Deutscher, in Sicherheit wiegen. Dir wäre die Entscheidung abgenommen, Du dürftest nur über Kimme und Korn in die Welt blicken, bräuchtest Dich nicht verwirren lassen von dieser unverständlichen Welt. Aber Du bist Südländer, diese Eidesmentalität ist Dir fremd, wir trauen sie Dir einfach nicht zu, entschuldige bitte unser Vorurteil.

Also raten wir Dir nichts. Wir wünschen Dir schlicht Glück, das Glück, den väterlichen Hof übernehmen zu können, und wir hoffen, dass Du nach 1945 noch Ohren hast, zu hören und Genitalien, um Anita einen Sohn zu schenken.

Aber was tun wir mit Dir? Du bist unsanft erwacht, und Unannehmlichkeiten können wir Dir jetzt leider nicht mehr ersparen. Doch sehen wir weiter.

Krajcek wurde von einem Gewehrkolben geschubst, und fünf oder sechs Soldaten, fremde Soldaten, standen um ihn herum. Die Männer lachten über sein verdutztes Gesicht und drückten seine Nase in den Boden. Krajcek wurde gefesselt und auf einem Lastwagen verstaut. Dann begann eine wilde Fahrt über die schlechten Straßen Krajceks Heimat. Es war Krajceks erste Fahrt in einem Auto, und es war keine angenehme Erfahrung. Er lag auf seinen Händen, die auf dem Rücken zusammengebunden waren, und hatte keinen Platz sich umzudrehen. Denn links und rechts von ihm standen dreckige Soldatenstiefel mit Soldatenunterschenkeln darin, und die gaben keinen Millimeter nach. Einige von den Stiefeln ruhten der Bequemlichkeit halber auf Krajceks weichem Bauernbauch, gepolstert von Butterstullen und Lammfleisch. Es war Krajcek bestimmt, seine Schafe zu hüten und ihr Fleisch zu essen. Dazu war er geeigneter, als Jagd auf grüne Männer zu machen.

Nach einer Fahrt, die Krajcek keine Muße ließ, zu überlegen, wohin sie wohl ging, und während der seine Arme tief eingeschlafen waren, fuhr der Lkw in ein Dorf ein und Krajcek wurde abgeladen. Man trieb ihn ein paar Schritte über eine Straße und schubste ihn dann in einen Bretterverschlag. Die Tür wurde zugeknallt und von außen abgeschlossen; Krajcek lag im Dunkeln auf etwas weichem Heu.

Seine Schultern schmerzten, aber natürlich war seine momentane Lage noch mehr Grund zur Besorgnis: Er war erwischt worden wie ein kleiner Junge beim Eierstehlen, er war eingeschlafen und die fremden Soldaten hatten ihn geschnappt. Was würden sie mit ihm anstellen? Würden sie ihn an die Wand stellen, wenn nur genug von seiner Sorte aufgesammelt waren, sobald der Verschlag voll war mit eingeschlafenen Bauernsöhnen? Sicher würden sie ihn verhören, Namen und Orte würden sie wissen wollen, schon bald. Und er würde alles sagen, was er wusste. Hauptmann Soundso, Abteilung Soundso in Dorf Soundso. Zwölf Mann. Bewaffnet soundso. Treffen jeden Dienstag unter Baum soundso. Krajcek war kein Held, und er wollte auch keiner werden. Er wollte nur Bauer sein.

Einige Stunden später wurde es wieder hell um Krajcek. Er hatte diesmal nicht geschlafen, und wurde unsanft am Kragen gepackt. Man drehte ihn herum, und ein Offizier starrte ihm ins Gesicht, untersuchte seine Ausrüstung, nickte, und sagte zu den anderen Soldaten etwas in seiner Sprache. Es hörte sich nicht wie ein Todesurteil an. Wenn jemand ein Todesurteil spricht, dann tut er es normalerweise drohend, unheilkündend, finster, rollt die Konsonanten, macht kurzen Prozess in seinen Gesten. Was der Offizier sagte, klang eher beiläufig. Aber wer weiß, wie viele Todesurteile der Offizier schon gesprochen hatte?

Krajcek wurde wieder an Schultern und Füßen gepackt und hinausgeschleppt. Zu seiner Verwunderung aber ging es nicht in ein Büro oder einen dunklen Vernehmungskeller, sondern er wurde wieder verladen, auf denselben Lkw, nur saßen diesmal nur wenige Soldaten um ihn herum. Die Soldaten lachten und scherzten, es sah nicht wie das Erschießungskommando aus, ein Peleton hatte zwölf Mann, hatte er gehört, und das hier waren nur sechs. Aber wer weiß, wie viele Erschießungen die hier hatten pro Tag? Vielleicht hatten sie zuwenig Soldaten? Oder einem einfachen Bauern wie ihm standen nicht mehr zu? Die Soldaten lachten, und sahen ihn an, und da machte einer die Geste, vor der Krajcek Angst gehabt hatte, er führte seinen Zeigefinger quer über den Adamsapfel, und daraufhin lachten die anderen noch mehr. Nur Krajcek bekam es mit der Angst zu tun, er schwitzte mehr, als es bei dem schwülen Wetter nötig gewesen wäre.

Nach einiger Zeit hielt der Lkw, und Krajcek hielt nun seine Stunde für gekommen. Er murmelte ein Gebet, und die Soldaten lachten und lachten. Warum hatten sie ihn so weit gefahren? War hier eine ganze Gruppe von Kriegsgefangenen zur Exekution versammelt? Krajcek fand keine Antwort auf diese Frage.

Er wurde ausgeladen und mitten auf einer geschotterten Straße durch den Wald abgelegt. Dann stiegen die Soldaten wieder auf und fuhren davon. Krajcek kam es mit einem Mal so vor, als wäre er frei, als trüge er keine Fesseln, er empfand ein Hochgefühl, wie er es noch nicht gekannt hatte. Sie hatte ihn liegengelassen, waren weggefahren. War denn das möglich? Sicher würden die Soldaten im nächsten Moment ihren Irrtum erkennen und umkehren, um ihn zu erschießen.

Eine Viertelstunde blieb Krajcek still liegen. Als nichts geschah, begann er, sich umzusehen. Links und rechts von der Straße war eine kleine Lichtung, und irgendwie kam Krajcek die Gegend bekannt vor. Er konnte nicht weit von Zuhause weg sein. Er war gerettet.

Einige Stunden später wurde Krajcek von einem Mann gefunden, der auf einem Pferdekarren vorbeikam. Bald wurde Krajcek klar, warum er die Lichtung gekannt hatte. Der Mann war sein Schwiegervater in spe, der Vater von Anita. Sie befanden sich etwa zwei Kilometer vor seinem Dorf, nicht weit von dem Ort, wo er eingeschlafen war.

Am gleichen Tag noch ging Krajcek zu seinem Hauptmann. Er war schließlich vermisst worden. Krajcek erstattete Bericht, in dem natürlich einige Details fehlten, andere herausgehoben waren, so dass er zwar keine Lobrede, aber auch keine zu schlimme Gardinenpredigt erhielt. Dann klärte ihn der Hauptmann auf: Er wäre von Italienern geschnappt worden, die seit einigen Tagen mit den konservativen Tschetniks gemeinsame Sache machten. Es ging nun gegen die kommunistischen Partisanen Titos, "zeitweise nur", wie sein Hauptmann sagte, "solange, bis die Engländer hier sind. Dann sind die Tito-Leute weg und die Italiener sowieso."

Das skeptische Gesicht Krajceks veranlasste den Hauptmann noch zu einer kleinen Ermunterung: "Na, macht nichts, Krajcek, das nächste Mal passt Du eben besser auf."

(1996 - Mai 1997)

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