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Die Entscheidung


Eine Geschichte über eine notwendige Maßnahme in einer Firma, in einem anderen Land oder zu einer anderen Zeit
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Fischer hatte sich zu Wort gemeldet und erstattete Bericht.

"Unsere Lage hat sich in den letzten Monaten eigentlich nicht verschlechtert, sie ist genauso schlecht wie bisher. Im Herbst, wenn die Auto- und die Buchmesse stattfinden, da sind wir immer knapp mit Mitarbeitern. Etwa von September bis November. Da könnten wir 20 Mitarbeiter brauchen, weil wir zeitig vor Weihnachten fertig sein müssen. Und jetzt im Januar bräuchten wir eigentlich nicht so viele."

Fischer machte in der Firma den Bestellkram und das Organisatorische. Er war bekannt für seine Nüchternheit. Er führte Buch über Verkaufszahlen, Umsätze, Ausgaben und so weiter. Er brachte das ganze in die Form von Excel-Tabellen. Eigentlich war er, von seiner Ausbildung her, kein Buchhalter, sondern Kaufmann. Aber er verhielt sich wie ein Buchhalter. Er war ein wandelndes Klischee von einem Buchhalter, fand Müllerer. Mayer-Nimfeld war da ganz anders.

"Liebe Kollegen, das ist ganz einfach. Wir arbeiten alle gerne hier, und wir würden gerne so zusammenbleiben, wie wir jetzt sind, aber wir kommen an Korrekturen nicht mehr vorbei. Irgend etwas müssen wir ändern, sonst sitzen wir alle in ein paar Monaten auf der Straße. Wir müssen einen Vollzeit-Arbeitsplatz streichen, so weh es auch tut. Im Herbst können wir statt dessen einen freien Mitarbeiter oder zwei zusätzlich einstellen."

Müllerer war anderer Ansicht und er nahm kein Blatt vor den Mund: "Egon, ich glaube, du sagst uns nicht alles, was du denkst. Hans hat gesagt, wir bräuchten im Herbst 10 mehr und sonst 5 weniger. Wenn wir da anfangen, wo ist dann Schluss? Ich meine, die meisten von uns haben Familie und müssen ihre Kinder versorgen und..."

"Wir werden einen Arbeitsplatz streichen müssen", entgegnete Mayer-Nimfeld. "Ich bin sicher, dann schaffen wir es. Dann haben wir die Kostenseite besser unter Kontrolle und können vielleicht auch noch einmal um zehn Mark mit dem Preis runtergehen - bei einigen DVDs zumindest."

"Entschuldigt, aber meine Meinung ist: Wir sollten schon zusammenhalten. Wenn wir Leute entlassen, dann verschlechtert sich doch irgendwie das Arbeitsklima, und wahrscheinlich kündigen dann auch einige Leute, wenn sie etwas besseres finden, und so weiter." Dass Müllerer Widerstand leistete, lag auch an seiner persönlichen Situation: Er war noch kein halbes Jahr da, also war er noch in der Probezeit. Wenn er sie schon abgeleistet hätte, dann wäre er vielleicht auf der Seite von Mayer-Nimfeld gewesen.

"Aber wen sollen wir entlassen? Ich meine, jeder hat doch hier seine Aufgabe," fragte Fischer.

"Ich finde, wir sollten da schon etwas sozial vorgehen. Wenn wir schon jemanden entlassen müssen. Die Familienväter, finde ich..."

Mayer-Nimfeld unterbrach Müllerer: "Moment, Moment, so kommen wir nicht weiter. Jeder hat andere Ansichten, was sozial heißt. Aber alles der Reihe nach. Zuerst wird abgestimmt, ob wir überhaupt einen Arbeitsplatz streichen sollen. Fischer macht die Abstimmung, wie immer. Alle einverstanden? Okay. Und dann die Frage, wen wir nehmen. Also, es gibt nach Betriebsverfassungsgesetz zwei Methoden: die demokratische und die japanische..."

Mayer-Nimfeld kannte sich aus mit den Betriebsgesetzen. Er war vor der Wende Gewerkschafter gewesen. Dem konnte so schnell keiner was vormachen. Deswegen hatten sie ihn ja gewählt. Oder wenigstens die meisten.

"Japanisch heißt, einer geht freiwillig, opfert sich. Geht jemand freiwillig?" Mayer-Nimfeld sah in die Runde. Alle schwiegen. "Nein? Hab ich mir gedacht. Dann also demokratisch."

Keiner widersprach. Sie gingen an ihre Plätze zurück. Nach einer Viertelstunde kam die Mail mit der Aufforderung zur ersten Abstimmung. Müllerer saß vor seinem PC und überlegte. Er sah schon ein, dass die Lage kritisch war, aber er musste zuerst an seine Familie denken. Das Risiko für ihn war einfach zu groß. Und schließlich, wenn sie alle die Löhne etwas reduzierten... Er musste einfach dagegen stimmen. Er tippte ein lakonisches "Nein" als Antwort und schickte die Mail ab. Dann die zweite Abstimmung: Jeder sollte nun einen Namen eingeben. Müllerer wusste, dass die Abstimmung anonym war. Es war trotzdem schrecklich. Einen Kollegen anzugeben, dessen Stelle eingespart werden sollte - er überlegte, ob er sich enthalten sollte. Aber dann wäre er selbst in um so größerer Gefahr gewesen. Er tippte einen Namen. Die dritte Mail forderte dazu auf, wieder an den Besprechungstisch zu kommen. Fischer verkündete das Ergebnis.

"Ja, also, die erste Abstimmung ist ziemlich knapp ausgegangen. Vierzig Prozent waren gegen den Vorschlag, sechzig dafür. Enthaltungen gab es keine."

Wenn die Situation nicht so gewesen wäre, wie sie war, hätte Müllerer schmunzeln müssen. Sie waren zu zehnt in der Firma. Die Ergebnisse trotzdem in Prozent zu verkünden - das war typisch Hans Fischer. Aber wie die Dinge lagen, sah Müllerer keinen Grund zum Grinsen. Er rechnete damit, dass gleich sein Name fallen würde.

"Also, ich freue mich, dass die erste Abstimmung eine Mehrheit für die Entlassung ergeben hat. Das zeigt, wie groß das Verantwortungsgefühl für die Firma ist. Dagegen kann sogar die Angst davor, den Arbeitsplatz zu verlieren, nicht an. Das sagt schon einiges aus über den Gruppengeist in unserer Firma. Ich hoffe auch, dass der oder diejenige, den es trifft, die Mehrheitsentscheidung akzeptiert. Ich glaube, es geht hier nicht um Personen oder Sympathie und Antipathie, sondern nur darum, der Firma ein Überleben zu sichern. Jetzt zur zweiten Abstimmung. Fischer, du hast die Ergebnisse."

"Die zweite Abstimmung war nicht ganz eindeutig. Nur ein Name hat mehr als zwei Stimmen auf sich vereinigen können. Zwei andere Namen haben je zwei Stimmen bekommen. Der Rest verteilt sich auf die anderen. Wie sollen wir jetzt verfahren?"

Der Kollege Fischer war für Müllerer ein Rätsel. Wie konnte einer so nüchtern bleiben bei einer solchen Frage. Oder hatte Fischer die meisten Stimmen bekommen, und wollte sich selbst noch eine Chance geben? Nach kurzer, heftiger Diskussion hockten sie sich alle noch einmal vor ihre PCs. Alle drei Namen, die mehr als eine Stimme bekommen hatten, sollten noch einmal zur Abstimmung stehen, wobei dann aber der mit den meisten Stimmen verloren haben sollte. Müllerer war sich klar, dass sein Name darunter sein würde. Jetzt ging es also ans Eingemachte.

Müllerer zwang sich zur Ruhe und las die Mail. Tatsächlich war sein Name darunter. Und dann noch zwei Namen, Hans Fischer und Mayer-Nimfeld. Es stand nicht dabei, wer wie viele Stimmen bekommen hatte. Die drei Namen standen in alphabetischer Reihenfolge da. Müllerer überlegte, wem von den beiden anderen er seine Stimme geben sollte. Welcher von beiden wäre eher mehrheitsfähig? Hans Fischer? Der stand wahrscheinlich auf der Liste, weil niemand damit rechnete, dass dieser nüchterne, beherrschte Typ eine Szene machen würde, wenn er gewählt werden würde. Nicht Hans Fischer, der würde sachlich das Abstimmungsergebnis verkünden und dann anfügen, dass er die Firma zum nächsten Ersten verlassen würde. Und Mayer-Nimfeld? Der große Stratege? Wer sollte dann den Vertriebschef machen? Nie und nimmer. Mayer-Nimfeld führte die Verhandlungen mit dem DVD-Hersteller und anderen Vertragsfirmen. Er war derjenige, den man am schwersten ersetzen konnte. Jede Firma würde sich nach einem solchen Mann die Finger lecken.

Müllerers Entscheidung stand fest. Er tippte ein großes X hinter Fischers Namen und klickte auf "Senden". Dann ging er mit mulmigem Gefühl zurück zum Versammlungstisch im Flur. In diesem Moment war sich Müllerer fast sicher, dass er in den nächsten fünf Minuten seinen Job verlieren würde. Müllerer war der einzige in der Probezeit. Wen sonst sollte diese fest zusammenhaltende Mannschaft feuern, wenn nicht ihn, der noch nicht so ganz dazugehörte?

Fischer ergriff das Wort. Diesmal machte er es kurz. Er räusperte sich und verkündete lapidar: "Die Abstimmung hat eine Mehrheit für Mayer-Nimfeld ergeben."

(Dezember 1997 - Februar 2000)

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