Bernhard Schlink: Der Vorleser
Versuch einer Annäherung
Ein Roman-Bestseller über eine seltsame Liebe und deutsche Vergangenheitsbewältigung.München, im August 2000 - Eine seltsame Liebesbeziehung zwischen einem 15-Jährigen und einer wesentlich älteren Frau steht im Mittelpunkt von Bernhard Schlinks Roman "Der Vorleser". Die Verwicklungen und Probleme der Beziehung führen den Leser zum Thema der deutschen Vergangenheitsbewältigung.
Der junge Ich-Erzähler lernt durch Zufall Hanna Schmitz kennen. Hanna ist Trambahnschaffnerin, er Schüler. Er ist von ihr fasziniert, und ein erotisches Verhältnis entwickelt sich zwischen den beiden. Oft muss ihr der Junge aus klassischen Romanen und Dramen vorlesen. Dann badet sie ihn und nimmt ihn mit ins Bett. Eines Tages jedoch ist Hanna verschwunden.
Kriegsverbrechen
Im zweiten Teil des Romans spielt sich die deutsche Kriegsvergangenheit in den Mittelpunkt. Einige Jahre sind vergangen. Der Ich-Erzähler studiert nun Jura. Als Mitglied einer Seminargruppe wird er beauftragt, bei einem KZ-Prozess Protokoll zu führen. Er sieht Hanna im Gerichtssaal wieder und erfährt, dass sie bei der SS war. Gegen Ende des Krieges, im Winter 1944/45 gehörte sie zu einer Gruppe von Frauen, die einen Häftlingszug beaufsichtigte. Ein kleines Lager bei Krakau wurde evakuiert, und die Häftlinge wurden zu einem Marsch nach Westen gezwungen. Die Kolonne übernachtet in einer Kirche, die von alliierten Bomben getroffen wird. Hanna und den weiteren Angeklagten wird vorgeworfen, die Türen der Kirche nicht geöffnet zu haben, obwohl drinnen ein furchtbares Feuer wütete, in dem alle Häftlinge bis auf zwei ums Leben kamen.
Der Prozess nimmt für Hanna einen unglücklichen Verlauf. Sie
wird von den anderen Angeklagten beschuldigt, sie habe einen Bericht über
das Unglück geschrieben. Sie bestreitet das, doch als der Staatsanwalt
einen Schriftsachverständigen hinzuziehen will, der Hannas Schrift
mit der Schrift des Berichts vergleichen soll, gibt sie zu, den Bericht
verfasst zu haben.
Hannas Geheimnis
Etwas später enthüllt sich dem Ich-Erzähler Hannas Geheimnis:
Sie ist Analphabetin. Deswegen hatte sie sich zuerst von Häftlingen,
und später von ihrem jungen Liebhaber so oft vorlesen lassen. Deswegen
war sie freiwillig von Siemens (wegen der Gefahr, befördert zu werden,
was ihr Geheimnis verraten hätte) zur SS gegangen. Deshalb hatte sie
zugegeben, den Bericht geschrieben zu haben, denn sie hätte dem Schriftsachverständigen keine Schriftprobe geben können. Deshalb hatte sie auch überstürzt die Stadt verlassen, denn sie sollte vom Trambahndienst in den Innendienst versetzt werden, und da hätte man entdeckt, dass sie nicht schreiben
und lesen konnte.
Der Erzähler überlegt, ob er Hannas Geheimnis dem Richter
mitteilen sollte, um sie vor dem Gefängnis zu retten, tut es dann
aber doch nicht, da Hanna selbst wissen musste, was sie tat. Sie wird zu
lebenslanger Haft verurteilt.
Der dritte Teil des Romans spielt nach der Verhandlung. Der Ich-Erzähler
heiratet und hat ein Kind mit seiner Frau Gertrud. Als das Kind fünf
ist, kommt es zur Scheidung. Der Erzähler hängt noch immer
an Hanna. Er beginnt, klassische Werke zu lesen, macht Aufnahmen davon
und schickt sie Hanna ins Gefängnis. Er schreibt ihr nicht und spricht
auch kein persönliches Wort auf die Kassetten. Nach einigen Jahren
kommt von Hanna ein kurzer geschriebener Gruß - sie lernt Lesen und
Schreiben. Schließlich, nach 18 Jahren Haft, soll sie gnadenhalber
entlassen werden. Von der Gefängnisleiterin wird der Ich-Erzähler
gebeten, Hanna abzuholen. Er willigt ein, organisiert Wohnung und Arbeit
für sie und besucht Hanna kurz vor der Entlassung. Sie ist alt und
dick geworden.
Am Morgen des Entlassungstages jedoch bringt Hanna sich in der Zelle
um. Sie hinterlässt ihrem "Jungchen" etwas Geld, das er der Überlebenden
der Bombennacht bringen soll. Er fügt sich ihrem letzten Wunsch, und
das Geld geht an eine jüdische Vereinigung für Analphabeten.
Zunächst wirkt Schlinks Roman polyzentrisch, zersplittert, als
habe der Autor ganz verschiedenartige Themen miteinander verknüpft.
Da ist einmal natürlich der Nationalsozialismus, dann das Analphabetentum,
die seltsame Liebe zwischen einem 15-Jährigen und einer etwa 36-jährigen
Frau, die die Mutter ihres Liebhabers sein könnte. Erst auf den zweiten
Blick klärt sich das Durcheinander etwas.
Zweierlei Vergangenheit
Es geht um zweierlei Vergangenheitsbewältigung: einerseits um
die Verarbeitung der Nazi-Vergangenheit durch Hanna und durch die deutsche
Gesellschaft überhaupt. Andererseits geht es um die nachträgliche
psychische Bewältigung der Liebe des Erzählers zu Hanna, die
ihm Schuldgefühle vermittelt. Der Erzähler setzt beides in Beziehung:
Er meint, "dass mein Leiden an meiner Liebe zu Hanna in gewisser Weise
das Schicksal meiner Generation, das deutsche Schicksal war." (Taschenbuch-Ausgabe
S. 163). Viele seiner Altersgenossen haben Eltern, die in das Nazi-System
verstrickt waren. Sie schämten sich einerseits ihrer Eltern, andererseits
reagierten sie auftrumpfend, aggressiv und selbstgerecht ihnen gegenüber.
Der Erzähler selbst hat zwar seinen Eltern nichts vorzuwerfen, aber
Hanna. Er wirft ihr ihre Verbrechen vor und das Unvermögen, sie zu
bereuen. Gleichzeitig wirft er sich selbst seine Liebe zu Hanna vor, denn
er hatte Hanna nicht nur geliebt, wie andere ihre Eltern liebten, sondern
sogar gewählt. Der Erzähler schämt sich seiner masochistischen
Neigungen, allerdings ohne dieses Wort zu verwenden: "Das Schlimmste waren
die Träume, in denen mich die harte, herrische, grausame Hanna sexuell
erregte und von denen ich in Sehnsucht, Scham und Empörung aufwachte.
Und in der Angst, wer ich eigentlich sei." (S. 142)
Nicht ganz zusammengebogen
Auch wenn die Themen auf die beschriebene Art zusammenhängen -
ganz einheitlich wirkt der Roman nicht. Der Analphabetismus passt nicht
hinein. Hanna meidet das Thema, schlimmer noch: Sie ist beherrscht von
der Furcht, entdeckt zu werden. Vor allem möchte sie nicht als Analphabetin
entlarvt werden. Um das zu verhindern, geht sie sogar ins Gefängnis
für Taten, die sie nicht oder zumindest nicht allein zu verantworten
hat. Die Analphabetin verbirgt etwas vor ihren Mitmenschen, wie Nazi-Verbrecher
ihre Vergangenheit verbergen. Aber diese Parallele ist schwach, scheint
etwas weit hergeholt.
In Wirklichkeit ist die Geschichte wohl so oder so ähnlich vom
Autor erlebt worden, und der Analphabetismus war einfach da, als Element
der Realität. Nationalsozialismus und Masochismus konnte Schlink noch
zusammenbiegen, nicht aber den Analphabetismus, der blieb abseits davon
stehen.
Ein Satz wie bei Proust
Gefallen hat mir besonders die Passage über das Erinnern an vergangenes
Glück (S. 38 f.), und Schlink war sich ihres Wertes wohl selbst bewusst,
sonst würde sich seine Sprache hier nicht so deutlich vom Rest des
Romans abheben: "Manchmal hält die Erinnerung dem Glück schon
dann die Treue nicht, wenn das Ende schmerzlich war." Hier ist Schlink
nicht nur ein rhythmisch einwandfreier Satz gelungen, sondern ein Gedanke,
der auch in Prousts Werk stehen könnte. Ansonsten ist Schlinks Sprache
durch sympathische Schlichtheit gekennzeichnet und kurze, einfache Sätze.
Der Roman beginnt beispielsweise so:
"Als ich fünfzehn war, hatte ich Gelbsucht. Die Krankheit begann
im Herbst und endete im Frühjahr. Je kälter und dunkler das alte
Jahr wurde, desto schwächer wurde ich. Erst mit dem neuen Jahr ging
es aufwärts."
Die Seitenzahlen beziehen sich auf die Ausgabe: B. Schlink, Der Vorleser, Diogenes, 1997 (detebe 22953, ISBN 3 257 22953 4)
(August 2000)
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