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David Malouf: "Ein Zauberer aus Oz"

Inhalt und Kurzinterpretation

Der australische Autor David Malouf und seine Kurzgeschichte "Closer". Ein Mitbringsel aus meinem Australienurlaub. 
München, im August 2000 - David Malouf, 1934 im australischen Brisbane als Sohn von libanesisch- und jüdischstämmigen Eltern geboren, gilt als einer der prominentesten Autoren Australiens. Er unterrichtete an Schulen in Großbritannien und an der Universität in Sydney. Heute lebt er abwechselnd in Australien und Italien. Im Jahr 2000 veröffentlichte er einen Band mit Kurzgeschichten. Außer Short Storys schrieb er auch Romane, Gedichte und Dramen, sowie das Libretto für die Oper "Voss", das auf einem Roman von Patrick White beruht, eines anderen, weit über Australien hinaus bekannten Autors.

"Closer": Homosexualität im australischen Busch
In der Geschichte "Closer" geht es um eine Familie im australischen Busch: Zwei Brüder, James und Matt, arbeiten auf dem Hof. Der dritte Bruder, Charles, lebt in Sydney. Er wurde von den Eltern verstoßen, weil er seine Homosexualität gestanden hat. Zweimal im Jahr, an Weihnachten und an Ostern, besucht Charles seine Eltern, seine beiden Brüder und seine Schwester. Das Grundstück darf er aber nicht betreten, sondern nur von jenseits des Zaunes herüberwinken.

Charles kommt in einem blitzenden BMW mit elektrischen Fensterhebern und einem Mobiltelefon. Das macht starken Eindruck bei den Kindern. Die Kinder freuen sich auf seinen Besuch, obwohl er "Abscheulichkeiten begangen" hat, wie die Eltern, die einer christlichen Sekte angehören, den Kindern eintrichtern. Und obwohl er aus Sydney kommt. Die Bewohner des Bauernhofs sagen ihren Kindern, die Großstadt sei wie die biblische Stadt Sodom. Die Leute dort würden von Gott durch ein unsichtbares Feuer bestraft für ihre Sünden.

Amys Traum
In diesem Jahr erscheint Charles nicht an Ostern. Amy, seine neunjährige Schwester, träumt in der Nacht von ihm: Er steht jenseits des Zauns, vollkommen nackt bis auf die Sonnenbrille. Er winkt. Dann geht er lachend durch den Zaun hindurch auf die wartende Familie zu. Das triste, grobe Gras verwandelt sich in eine Wiese mit leuchtenden Blumen.

Als sie aufwacht, ist Amy klar, dass sie nur geträumt hat. Aber sie weiß auch, dass die Gefühle im Traum echt sind, und man den Rest real machen kann, wenn man sich an ihnen festhält. Wenn Charles nicht zu ihnen kommen kann, dann würde sie, Amy, eben zu Charles gehen, denkt sie. Sie zeichnet ihn, stellt sich vor, Charles würde sie besuchen und durch den Zaun hindurch gehen.

Amys Traum gibt ihr Hoffnung: Wenn man den Glauben hat, dann öffnet sich der Zaun vor einem wie sich das Meer vor Moses teilte. Man muss nur die Hand ausstrecken.

An Weihnachten kommt Charles die Familie besuchen, und er wird von Amys Eltern wieder abgewiesen: Die Familie verspeist im Haus das Weihnachtsmahl, während Charles draußen warten muss. Es scheint, "als ob er schon tot wäre, und der Tod stärker als die Liebe wäre, was niemals sein kann."

Vokabular einer Neunjährigen
Die Geschichte ist aus der Sicht und mit dem Vokabular der neunjährigen Amy erzählt. Amy wird streng christlich erzogen, der Leser merkt es an ihrem Vokabular, und daran, wie sie ihre Umwelt, ihre Onkel und Großeltern mit Gestalten aus der Bibel vergleicht.

In ihrer Erziehung ist viel die Rede von Liebe und Tod. Die Großeltern erzählen ihr, Charles sei eine Art Todesengel, sein Auto der "chariot of death". Dass man das Gute lieben, die Sünde aber hassen müsste, und je schwerer einem das falle, desto mehr würde es die eigene Liebe zu Gott beweisen. Amy, die sich ihre eigenen Gedanken macht, sieht die Totenstarre, in die sich die Familie hinein manövriert hat. Die Eltern leiden unter der Trennung von ihrem Sohn, aber sie lassen ihn nicht an sich heran. Sie sperren ihn aus, verharren in der Starre, die ihnen von ihrem Glauben her vorgeschrieben ist.

Malouf hat eine slice-of-life-Geschichte geschrieben, die aus mehreren Sichtwinkeln heraus gesehen interessant erscheint: Einerseits durch ihr Thema, den Umgang mit der Homosexualität. Dieses Thema weitet Malouf aus auf den Antagonismus von Liebe und Tod. Das alles spielt sich im Kopf eines Kindes ab. Amy erlebt die Grausamkeit der Eltern gegenüber ihrem homosexuellen Sohn. Sie erzählt die Geschichte aus ihrem Blickwinkel. Malouf bringt es fertig, dass ihre Erzählung glaubwürdig wirkt.

Die Story wirkt schon beim ersten Lesen sehr stark, und gewinnt noch, wenn man sie wieder und wieder liest. Man kann sie als sozialkritisch bezeichnen, aber auch als philosophisch, theologisch und psychologisch. Das alles ist sehr ökonomisch in eine Sechs-Seiten-Geschichte gepackt.

Offener Schluss
In einem Interview mit dem australischen Sender ABC/Radio National wurde Malouf gefragt, ob der Schluss von "Closer" nicht etwas unbefriedigend sei, weil man nicht wisse, wie es weitergehen wird. Darauf meinte Malouf, er fände es faszinierend, wenn der Leser durch die Geschichte zum Weiterdenken provoziert würde. Bei den Kurzgeschichten macht es ihm deshalb nichts aus, wenn der Schluss offen bleibt.

Malouf bevorzugt nach seinen Aussagen in dem Interview Slice-of-life-Geschichten in der Art von Tschechow. Pointengeschichten nach der Art von O.Henry oder Hemingway liegen ihm weniger, das ginge in Richtung von Anekdoten, und die seien nur beim ersten Lesen überraschend. Seine eigenen Geschichten bezeichnet er als "condensed novels", als komprimierte Romane. Wenn er mit einer Geschichte beginnt, so erzählt Malouf, weiß er oft noch nicht, ob es eine Kurzgeschichte oder ein Roman wird. Wenn dann das Thema nach ein paar Seiten abgeschlossen ist, macht er eine Kurzgeschichte daraus, wenn es ihn weiter trägt, ihn nicht mehr loslässt, wird es ein Roman.

Die Geschichte "Closer" ist auf englisch in dem Band "Best Australian Stories 1999" (Hrsg. Peter Craven, Bookman Press, Melbourne, 1999) erschienen.

(August 2000, letzte Änderung April 2003)

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