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Shirley Jackson

Die unbekannte Größe

In den USA gehört die amerikanische Schriftstellerin Jackson zum Kanon. Doch in Deutschland ist sie wohl nur Kennern ein Begriff.  
München, im April 2000 - Shirley Jackson ist in Deutschland relativ wenig bekannt. Ihre Kurzgeschichten sind vergriffen. In Amerika dagegen gehören Storys wie "After You, My Dear Alphonse", "George" und vor allem "The Lottery" zum Einmaleins im Englisch-Unterricht.

Vor etwa einem Jahr stolperte der Macher in einer Anthologie über "Die Lotterie" und war sofort fasziniert von der Geschichte, von ihrem harmlosen Beginn und von der überraschenden Wendung gegen Ende. Und er las mehr von dieser unbekannten Größe aus Amerika, informierte sich auch über die Autorin. Hier das Ergebnis.

Shirley Jackson wurde 1919 in San Francisco geboren, graduierte an der Syracuse University und heiratete 1940 den amerikanischen Literaturkritiker Stanley Edgar Hyman. 1943 erschien "After You, My Dear Alphonse" im New Yorker. 1945 ließ sie sich mit ihrem Mann in North Bennington/Vermont nieder, wo "The Lottery" entstand. Das in der Geschichte beschriebene Dorf trägt angeblich Züge ihres Wohnorts. 

Just a story
"Die Lotterie" rief im Amerika der unmittelbaren Nachkriegszeit Proteststürme hervor. Im Vorfeld der McCarthy-Ära war ihre schwarze Sicht der Dinge wohl alles andere als zeitgemäß. Angeblich war die Story das kontroverseste Stück Literatur, das jemals im "New Yorker" veröffentlicht wurde. Hunderte kündigten ihr Abonnement, die Zeitschrift wurde wochenlang von den Lesern mit Briefen bombardiert. Einige protestierten gegen die "gewalttätige" und sinnlose Geschichte, andere priesen sie als brilliante moralische Allegorie. Shirley Jackson selbst sagte zur Bedeutung ihrer Geschichte: "Well, really it's just a story." 


Später wurde die Kurzgeschichte fürs Fernsehen, für Radio und sogar das Ballett adaptiert. Heute hat die Geschichte ihren Platz in der amerikanischen Allgemeinbildung.

Heimchen am Herd...
In Neuengland angekommen, erfuhr Jackson als exzentrische Zugereiste in einem verknöcherten, abgeschiedenen Dorf den Antisemitismus und die antiintellektuelle Haltung der Einwohner. Doch sie war bereits eine gespaltene Persönlichkeit, als sie in Vermont ankam. Eine Seite ihres Charakter erweckte Jackson von Anfang an in ihren Erzählungen und Romanen zum Leben: Das scheue Mädchen, das Heimchen am Herd. Die andere Seite von Shirley Jackson wurde offenbar erst ans Tageslicht gebracht durch die Heirat mit Hyman, und durch den Schock, plötzlich Mutter einer lärmenden, fordernden Kinderschar zu sein. 

Diese zweite Shirley Jackson verbat sich ihre Muttergefühle, trank und rauchte und aß bis zum Exzess - was letztendlich zu ihrem Tod führte - beschäftigte sich mit Magie und Voodoo und intervenierte lautstark, wenn sie glaubte, ihren talentierten Kinder wäre an den provinziellen Schulen Vermonts ein Unrecht geschehen. 

Ihre Umgebung hatte Angst vor dieser Shirley Jackson, man hasste und verfolgte sie sogar. Die Feindseligkeit der Ortsansässigen beeinflusste ihre Psyche und ihre Geschichten. Dieser Prozess verstärkte sich selbst: Nach dem enormen Erfolg von "Die Lotterie" entstand in dem Städtchen eine Legende: Danach wurde Jackson eines Tages von Schulkindern mit Steinen beworfen. Sie ging heim und schrieb die Geschichte nieder.

...und "Neuengland-Hexe"
Jackson wurde oft als Neuenglands Hexe tituliert. Mit einem Besenstiel statt einem Stift soll sie geschrieben haben, sechs schwarze Katzen soll sie gehalten haben. Und sie soll eine Wachsfigur von einem persönlichen Feind gemacht haben, wobei sie geglaubt haben soll, auf diese Art einen Unfall ihres Feindes verursacht zu haben.

In den 50er-Jahren widmete sich Jackson jedoch hauptsächlich der Erziehung ihrer vier Kinder. Außerdem erschienen verschiedene Romane - 1951 "Hangsman" und 1953 "The Life Among the Savages" - eine respektlose Erinnerung an Jacksons Kinder. 

Spukschlösser
"The Bird's Nest" (1957), ist ein klassischer Horrorroman, eine Geschichte über die Bewohner eines herrschaftlichen Hauses, isoliert von der übrigen Welt. Aus dem Roman: "I have my dolls house... And all the little dolls. One of them, " Fancy giggled, "Is lying in the little bathtub with the water really running. They're little dolls, house dolls. They fit exactly into the chairs and the beds. They have little dishes. When I put them to bed they have to go to bed. When my grandmother dies all this is going to belong to me."
"And where would we be then?" Essex asked softly, "Fancy?"
Fancy smiled at him. "When my grandmother dies," she said, "I am going to smash my dolls house. I won't need it any more." 

1958 kam "Raising Demons" heraus, und im darauf folgenden Jahr "The Haunting of Hill House". Nach der Legende stolperte Shirley Jackson bei den Recherchen für dieses Buch über die Beschreibung eines Hauses in England. Sie begann, nach einem Spukhaus zu suchen, und sie fand eines. "The same air of disease and decay, and if ever a house looked like a candidate for a ghost, it was this one." Sie erkundete die Hintergründe, und fand Erstaunliches heraus: Es wurde von ihrem eigenen Urgroßvater erbaut. Stoff für ihren Ruf als Neuengland-Hexe.

Das Buch wurde 1963 für den Film "The Haunting" von Robert Wise (MGM) adaptiert.

Everyone else in our family is dead
Eine wirkliche Krise kam gegen Ende ihres Lebens: Sie durchlebte eine Agoraphobie, eine Psychose. In dieser Zeit schrieb sie "We Have Always Lived in the Castle" (1963). In diesem Roman verteilt sie die beiden Seiten ihrer Psyche auf zwei Schwestern: Eine ist hypersensitiv und ängstlich, unfähig das Haus zu verlassen, die andere eine verwahrloste, dämonische  Frau, die möglicherweise die übrige Familie ermordet hat.Aus dem Roman: "My name is Mary Katherine Blackwood. I am eighteen years old, and I live with my sister Constance. I have often thought that with any luck at all, I could have been born a werewolf, because the two middle fingers on both my hands are the same length, but I have had to be content with what I had. I dislike washing myself, and dogs, and noise. I like my sister Constance, and Richard Plantagenet, and Amanita phalloides, the death-cup mushroom. Everyone else in our family is dead."

Shirley Jacksons letzter Roman, "Come Along With Me", blieb unvollendet. Die Hauptperson ist eine 45-jährige Frau aus Neuengland, die Nachforschungen über das Okkulte anstellt, und wieder drängten sich Parallelen auf. 

1965 starb Jackson im Alter von 48 Jahren während eines Nachmittagsschläfchens an Herzversagen. 

In einem Nachruf wird Jackson als säuberliche und gemütliche Frau beschrieben. Sie hätte erst nach ihren Hausarbeiten geschrieben, nachdem sie ihre Kinde rund ihren Ehemann versorgt hatte, heißt es. Die "Neuengland-Hexe" kommt nicht darin vor. 

Kurzgeschichten
Wenn man für die Kurzgeschichten von Shirley Jackson ein gemeinsames Thema, ein zentrales Motiv angeben müsste, wären es wohl die Sitten und Gebräuche, die Vorurteile der kleinbürgerlichen Welt um die Autorin herum, und die Rebellion gegen diese Welt. Die Atmosphäre des Sündenbock-Denkens wird in "Die Lotterie" beschrieben und die Konsequenzen aufgezeigt.

Ähnliches versucht sie in "Die Verräterin": Hier trifft die Grausamkeit der Dorfbewohner zwar nur den Hund der Protagonistin, aber am Schluss der Geschichte identifiziert sie sich mit dem Tier. In "Der Garten" wird eine neu zugezogene Frau von der Dorfgemeinschaft fertig gemacht, weil sie sich gegen die rassistischen Gewohnheiten und das Apartheids-System im Dorf stellt.

Eine mildere Form des Rassismus stellt "Nach dir, mein lieber Alphonse" vor: Die Mildtätigkeit gegenüber Schwarzen.

Ebenfalls harmloser als "Die Lotterie" und "Die Verräterin", aber sehr genau in der Beschreibung des kleinbürgerlichen Milieus, sind die renommiersüchtigen Teegespräche in "Nachmittag in Leinen" oder "Eine gute alte Firma", die Atmosphäre der Angst in "Dorothy, meine Großmutter und die Matrosen" oder die realistische Beschreibung der Intrigen einer Literaturagentin in "Elisabeth". Ausbruchsversuche aus der kleinbürgerlichen Welt zeigen "Der Zahn" und "Die Frau aus dem Village", die beklemmenden Phantasien einer sensiblen Frau vom Untergang der (bürgerlichen) Welt sind das Thema von "Salzsäule".

Man könnte Shirley Jackson wohl als eine sozialkritische Autorin bezeichnen, wobei ihre meisten Geschichten aber über den Mief des Kleinbürgertums im Nordosten der USA hinausweist. Man kann sie mit Thomas Bernhard vergleichen, der auf den Nerven des österreichischen Kleinbürgertums herumtrampelte, aber dessen Geschichten (z.B. der Roman "Frost") sind wesentlich depressiver. Man kann sie mit Katherine Mansfield vergleichen, aber deren Geschichten sind nicht so pointiert. Shirley Jacksons Protagonisten sind in der Mehrheit Frauen, aber sie schreibt keine feministischen Geschichten. In "Elisabeth" beispielsweise oder in "Wie Mutter es immer gemacht hat" ist die weibliche Hauptperson nicht besonders sympathisch dargestellt. Oft dreht sich das Geschehen um Hausfrauen in Neuengland, Mütter, die sich in der manchmal gefährlichen Welt eines Dorfes oder einer Kleinstadt zurechtfinden müssen.

Die Übersetzungen der Geschichten von Jackson sind (anders als die Romane) sind vergriffen. Man muss also in die Leihbibliothek gehen oder die englischen Originale lesen.

Über die Autorin gibt es einige recht gute Websites, die dem Macher bei seinen Recherchen und bei diesem Überblick geholfen haben. Zu "Die Lotterie" siehe auch die detaillierte Interpretation vom Macher - vorher sollte man aber die Geschichte lesen!

(April 2000)

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