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Thomas Bernhard: Kömodie und Tragödie

Ein Deutschdidaktik-Heft zum 75. Geburtstag Thomas Bernhards

Cover des ide-Hefts zu Thomas Bernhard
ide-Heft (4-2005) zu Thomas Bernhard
Einer der ganz Großen in der Literatur der Gegenwart wäre im Februar 2006 runde 75 Jahre geworden: Thomas Bernhard. Der StudienVerlag hat aus diesem Anlass ein interessantes Heft herausgebracht. Rezension

Er ist einer, den man gleich am Stil erkennt. Er ist einer, den man leicht nachahmen kann, und er ist einer, dessen Sprache sich leicht in Gehirnwindungen festsetzt. Am 9. Februar 2006 wäre er 75 geworden: Thomas Bernhard. Aus diesem Anlass widmet der österreichische Studienverlag dem Übertreibungskünstler ein Heft der Informationen zur Deutschdidaktik (ide).

Nicht nur für Lehrer

13 Beiträge von Wissenschaftlern und Deutschdidaktikern sollen einen Überblick über Thomas Bernhard geben, den bekannten Autor für die Schule erschließen. Also ein Heft für Lehrer? Nicht nur: Die meisten Artikel sind durchaus auch für den interessierten Literaturfan interessant. Der erste Artikel, von dem Salzburger Germanisten Hans Höller, ordnet Bernhard in den Kontext der österreichischen Literatur ein. Zumindest für den Nichtösterreicher hat der Begriff einer österreichischen Literaturgeschichte etwas Befremdliches. An die amerikanische Literatur haben wir uns gewöhnt und grenzen sie manchmal von der englischen ab, aber eine österreichische Literatur? So reich sie ist, die Literatur aus der Alpenrepublik, es fällt schwer, Musil, Kafka oder Bernhard nicht als deutsche Literatur zu sehen. Höllers Anliegen ist jedoch zu zeigen, was an Bernhards Themen spezifisch österreichisch ist. Bernhards seltsame Hassliebe zur Heimat, seine ins Negative gewendete Heimatschriftstellerei bietet genug Ansatzpunkte dafür.

Bernhards "Österreichkritik"

Daran anschließend bietet der in den USA lehrende Wissenschaftler Gregor Thuswaldner einen Einblick in die politische Dimension von Bernhards Werk. In seiner Prosa und Dramatik gibt es genug Stellen, gegen die sich das gesunde Volksempfinden der Österreicher und Politiker von Franz Vranitzky über Kurt Waldheim bis Jörg Haider wandten. Dem Nichtösterreicher drängt sich der Gedanke auf, dass die Ausfälle der Bernhard-Figuren gegen Österreich weniger auf "Bernhards Österreichkritik" (Thuswaldner) zurückgehen, sondern eher ein Anlass für die geniale Rhetorik Bernhards sein könnten. Was an seinem Werk interessiert, ist doch weniger die Frage, ob Österreich nur eine "Fundgrube von Brutalität und Schwachsinn", wie der Maler in "Frost" sagt, sondern der Stil Bernhards, seine faszinierende Sprache. Die Tatsache, dass so mancher nach der Lektüre des Frost-Romans beginnt, in der manischen Diktion von Bernhard zu denken. Der Stil, die Sprache Bernhards kommt im Heft des Studienverlags leider etwas zu kurz. Der erste Teil des Hefts wird abgeschlossen von einem Diskurs über die Gesamtausgabe der Bernhard-Werke, der für den Laien wenig ergiebig ist. Ob Lehrer damit mehr anfangen können, mag man bezweifeln, aber vielleicht lesen den Band ja auch ausgewachsene Wissenschaftler.

Auslöschung der Kindheit und Misogynie

Dann wird es wieder interessanter: Im zweiten Teil des Hefts erschließen fünf Aufsätze Themen und Motive im Werk von Bernhard. Wenngleich es hier mehr um Inhalte als die Form geht, ist es interessant, mit Bernhard Judex zu verfolgen, wie sich das Thema Kindheit durch die Werke Bernhards zieht. Oder wie Renate Langer das Thema Kunst und Krankheit im Œuvre Bernhards aufspürt – und überraschend als Fortsetzung des Denkens von Pascal und Novalis deutet. Hier fehlt allenfalls der naheliegende Hinweis auf Thomas Mann, in dessen Werk der Zusammenhang zwischen Künstertum und Krankheit ebenfalls eine zentrale Rolle spielt. Der Aufsatz Mireille Tabahs über das Frauenbild Bernhards ist wegen ihres fremdwortschwangeren Nominalstils stellenweise schwer lesbar. Wenn sich die belgische Wissenschaftlerin über Bernhards Darstellung der Geschlechterdifferenz nicht als affirmative Reproduktion, sondern als Subversion des patriarchalischen Geschlechterdiskurses ergeht, blättert man lieber weiter. Doch gegen Ende des Aufsatzes wird man für die Durststrecke entlohnt, wenn die Autorin zeigt, dass das misogyne Weltbild der Bernhardschen Helden letztlich nur Rollenprosa ist, und mehr die Unsicherheit der Männer zeigt als die Natur der Frau. Es drängt sich ein Vergleich mit dem Politik-Artikel von Thuswaldner im ersten Teil des Heftes auf: Vielleicht sollten sich von Bernhard abgestoßene Österreicher ein Beispiel an den souveränen Frauen nehmen?

Ist es eine Komödie? Ist es eine Tragödie?

Hochinteressant ist der folgende Aufsatz von Wendelin Schmidt-Dengler über Bernhard als Kryptokomiker. Der Wiener Germanistik-Professor geht der Frage nach: Ist es eine Kömodie? Ist es eine Tragödie? Dieser Titel einer Bernhard-Erzählung spielte offenbar eine wichtige Rolle im Denken von Bernhard – und natürlich auch der Literaturkritik und -wissenschaft. Schmidt-Dengler zeigt, dass Bernhards Texte oft wie Umspringbilder sind. Blitzschnell kann der Leser wechseln von der tragischen Seite zur komischen Interpretation. Bernhard balanciert zwischen diesen Seiten und entgeht der Kategorisierung. Wieder mehr an Inhalten interssiert zeigt sich Liesbeth Bloemsaat-Voerknecht in der folgenden Arbeit über die Beziehung zur Musik. Die Autorin geht mehr auf die Musik als Thema von Bernhard ein als auf die Musikalität seines Stils – die taucht nur in den Fußnoten auf.

Danke, Herr Kreuzwieser

Nach den literaturwissenschaftlichen Aufsätzen, die sich für interessierte "Berhardiner" mindestens ebenso eignen wie für Deutschlehrer, wird der Band nun didaktisch. Doch gleich der erste Beitrag in der Sektion "Thomas Bernhard im Unterricht" überrascht. Unter dem Motto "Jedes Wort ein Treffer" regt Markus Kreuzwieser dazu an, sich mit der Sprache Bernhards zu beschäftigen. Genau darauf hat der Leser gewartet! Er rät, den Blick von den Nestbeschmutzungs-Diskussionen wieder zurückzuwenden auf den Text und spricht vom "sinnvollsten und praktikabelsten Zugang zu Bernhards Werk", der "über die Sprache führt". Danke, Herr Kreuzwieser. Es folgen noch zwei Aufsätze, die wohl ausschließlich Lehrer interessieren dürften – einer über die dramapädagogische Verwendung von Bernhard-Texten im Unterricht und ein Vorschlag zur Gruppenarbeit zum Thema Bernhard. Mit Hinweisen zu Materialien und einem Linkverzeichnis schließt der 128 Seiten starke Band ab.

Inhaltslastig

Insgesamt ist das ide-Heft ein guter Überblick zum Phänomen Thomas Bernhard. Es dokumentiert aber auch die Inhaltslastigkeit des Deutschunterrichts. In einem Fach, wo es doch eigentlich um Sprache gehen sollte, wird oft mehr über den Inhalt und die Bedeutung eines Texts geredet als über das Erlebnis des Stils. So wird die Literatur, getrennt von der sinnlichen Erfahrung des Materials, verkopft und intellektualisiert. Der Spaß am Klang der Worte, an den Worten selbst, bleibt auf der Strecke. Aber dieses Defizit sollte mal wohl mehr den Unterrichtsplänen als dem vorliegenden Heft ankreiden.


Thomas Bernhard. Hrsg. von Manfred Mittermaier, Eva Maria Rastner und Werner Wintersteiner. Informationen zur Deutschdidaktik (ide) - Zeitschrift für den Deutschunterricht in Wissenschaft und Schule. 29. Jahrgang, Heft 4-2005, StudienVerlag Innsbruck-Wien-Bozen, 13 Euro (Einzelheft), Abonnement mit vier Heften pro Jahr 34 Euro zuzgl. Porto


 

Letzte Änderung: April 2006

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