Autorentreff
Die Münchner Literaturgruppe IBIS
Ein Erfahrungsbericht über eine Münchner Literaturgruppe, die sich alle zwei Wochen trifft, um Selbstgeschriebenes zur Diskussion zu stellen.München, im Januar 2000 - Nach dem Verschwinden von Literatur-Mailboxen und den ernüchternden Erfahrungen mit der Anonymität des Internets habe ich schon seit einiger Zeit nach einem Ersatz gesucht, nach einer Literaturgruppe, einem Schreibseminar, nach Gleichgesinnten. Irgendetwas, wo man fachsimpeln kann und Kritik zu hören bekommt. Im Literaturblättchen seiner Heimatstadt München entdeckte ich schließlich im Herbst 1999 etwas, was wie die Antwort auf diese Suche aussah.
Durch das Literaturblättchen fand ich heraus: Allein in München gibt es vier oder fünf Autorengruppen. Das Angebot reicht von der (wahrscheinlich sehr friedfertigen) Frauenschreibgruppe bis zur Lesung in semiprofessionellem Umfeld. Ich habe mir aufs Geratewohl eine herausgesucht, und landete - bei der Schreibgruppe "Ibis".
Selbsthilfe
Ich hatte keine bestimmte Vorstellung, was mich erwarten würde. Gedichte vielleicht, dachte ich mir, und davon verstehe ich nichts. Oder eine Diskussion über Veröffentlichungsmöglichkeiten, darüber, wie man ein Manuskript überarbeitet. Und wie viele Leute würden da sein? Wohl irgendwas zwischen gar niemand und 30 Leuten. Egal, man würde sehen. Jedenfalls waren Gäste willkommen, so stand es in dem kurzen Terminhinweis des Literaturblättchens. Man traf sich um 18 Uhr im "Selbsthilfezentrum" in der Bahnhofsgegend. Selbsthilfezentrum - das klang nach anonymen Alkoholikern. Oder vielleicht Schreiben als Therapie für Psychotiker? Ich hatte ein mulmiges Gefühl, und vielleicht hätte ich doch noch auf halbem Wege kehrtgemacht, wenn, ja wenn ich nicht einen Bericht auf diesen Seiten angekündigt hätte.
Ich hatte meinen Weg zu der Veranstaltung gefunden und fand mich in einem kleinen Zimmer wieder. Eine Couch, ein paar Stühle und ein kleiner Tisch, ein Garderobenständer, das war alles. Mehr als zehn Leute würden hier nicht hineinpassen. Außer mir war niemand da. Eine hilfsbereite Angestellte des Selbsthilfezentrums hatte mir zuvor gesagt, dass eventuell überhaupt niemand erscheinen würde, zwischen Weihnachten und Neujahr würde das Treffen manchmal ausfallen. Deswegen begann ich zu überlegen, wie lange ich warten sollte, falls niemand käme. Aber kurz nach Sechs erschien jemand, der sich mit Axel*) vorstellte und mir gleich das Du anbot. Wir setzten uns auf die Couch und unterhielten uns eine Zeitlang. Ich erzählte, ich schreibe Kurzgeschichten und stelle sie im Internet vor. Er schreibe eher Lyrik oder Stimmungsbilder.
Als nächstes erschien ein älteres Paar, sie um die 60, er wohl um die 70, mit nicht zu übersehendem Parkinson-Leiden. Sie stellten sich vor, waren interessiert an den Nachnamen und ließen sich nicht auf das Du ein. Der Mann, so stellte sich heraus, war nur Begleiter, schrieb selber nicht. Er wäre Maler, sagte er, würde aber gerne mal zuhören. Wenig später kam noch ein Gast, den mein Gesprächspartner als Thomas begrüßte: ein Altgedienter offenbar.
Kein Zwang
Manchmal machten sie Schreibspiele, aber meistens lese man sich die eigenen Geschichten oder Gedichte vor, erzählte mir Axel. Eine offene Sache, kein Zwang zu kommen, kein Zwang etwas vorzulesen. Das gefiel mir. Normalerweise würden zwischen fünf und sieben Leute kommen, einen festen Kern gebe es und ab und zu würde ein Neuling dazukommen.
Viertel nach Sechs. Sonst war niemand mehr erschienen. Axel sagte ,
man sollte jetzt wohl anfangen. Thomas hatte eine Geschichte mitgebracht,
die "Freitag Abend im Literaturbüro" hieß. Es ging um die Atmosphäre
in einer Münchner Autorengruppe, wo Geschichten offenbar ziemlich
gnadenlos kritisiert werden. Er wollte die Geschichte ein paar Tage später
eben im Literaturbüro vorlesen und benutzte offenbar die Gelegenheit
zu einer Generalprobe. Thomas las langsam, deutlich und gut. Manchmal putzte
er sich die Nase oder wischt sich mit einem Taschentuch den Mund ab. Man
merkte, dass er gelernt hatte, seine Nervosität zu unterdrücken.
Für mich würde es schwer sein, genausogut vorzulesen wie er.
Ich erinnerte mich an qualvolle Deutschstunden, in denen ich aus dem Lesebuch
vorlesen musste. Von damals wusste ich, dass ich es nicht konnte. Ich las
zu schnell und stolperte immer wieder über Sätze, verhaspelte
mich. Und nachdem ich drei Absätze vorgelesen hatte, hatte ich keine
Idee davon, worum es darin ging. Ich nahm mir vor zu üben.
Literaturbüro
Etwa zehn Seiten Maschinengeschriebenes las Thomas vor. Mir gefiel
die Sache nicht schlecht, auch wenn die Geschichte keine Kurzgeschichte,
sondern eher eine Art Erlebnisbericht war. Nachdem er zu Ende gelesen hatte,
trat eine kleine Pause ein. Dann sagte Axel, der Text klinge für seinen
Geschmack zu sehr nach persönlicher Verletztheit. Ich pflichte ihm
bei, wobei ich mir Mühe gab, nicht meinerseits zu verletzen. Dann
sagte Axel noch, manche Witze im Text wären sehr kalauerhaft. Dass
einer der Kritiker Karl May mit Karl Marx verwechselt zum Beispiel. Mir
war das ebenfalls aufgefallen. Die ältere Frau dagegen lobte den Text
- etwas zu sehr, wie ich finde.
Dann begann die Frau ihre Blätter zu ordnen und bevor sie anfing
zu lesen, schickte sie voraus, dass es Jugenderinnerungen seien, leicht
bayrisch gefärbt. Der Text berichtete von ihrer Schulzeit nach dem
Krieg, von den Lehrern. Viel spezifisch Bayrisches konnte ich nicht darin
finden. Mich interessieren solche Sachen, ich bin immer neugierig, etwas
vom Alltag früherer Generationen zu hören. Das sagte ich ihr
auch.
Tücken des Zuhörens
Dann kam Axel. Er zog ein Schreibheft heraus und las ein Gedicht, das
mir von der Form her fast wie eine meiner kurzen Kurzgeschichten vorkam.
Der Text war beim ersten Hören sehr schwer zu erfassen, schwerer noch
als eine Geschichte, da die Sprache so komprimiert war, ungewohnte Wendungen
enthielt und mehr von Sprachbildern lebte als von einem klaren Handlungsfaden.
Es lag nicht an der Qualität des Gedichts, sondern eben an der Form.
Man musste praktisch jeden Satz im Gedächtnis behalten, um irgendwann
zu begreifen, worum es üerhaupt geht. Mir fiel das besonders schwer,
da ich nach einem vollen Arbeitstag Schwierigkeiten hatte, mich zu konzentrieren.
Der Frau war es offenbar genauso gegangen, denn sie bat Axel, das Gedicht
noch einmal zu lesen. Diesmal kapierte ich halbwegs, worum es ging: Eine
Frau hat ihren Geliebten verlassen, die Beziehung ist zerbrochen, daher
hieß das Gedicht "Bruch". Bruchstückhafte Sinneseindrücke,
Erinnerungsfragmente schießen dem Verlassenen durch den Kopf. Nicht
schlecht gemacht, mit dieser Art von Gedicht könnte ich mich anfreunden.
Selbst vorlesen?
Anschließend fragte mich Axel, ob ich auch etwas mitgebracht
hätte. Hatte ich nicht. Überlegt hatte ich es mir schon, aber
dann hatte ich darauf verzichtet. Irgendwie hatte ich ja mit mehr Leuten
gerechnet, und da wäre es unnötig gewesen, mich gleich beim ersten
Mal zu produzieren. Erst mal sehen, anhören, wie man kritisiert wird,
hatte ich mir vorgenommen. Jetzt tat es mir ein bisschen leid. Beim nächstenmal,
dachte ich mir.
Dann kam nochmal Thomas an die Reihe mit einigen kürzeren Gechichten,
die mir besser gefielen als der Erlebnisbericht. Kurze Geschichten wirken
oft stärker, das ist meine Erfahrung, weil jeder Satz, jedes Wort
mehr Gewicht erhält, wenn es weniger davon gibt.
Fazit
Die zwei Stunden haben sich gelohnt. Das Niveau war hoch, verglichen
mit dem, was ich aus dem Web und früher von den Literaturmailboxen
gewohnt war. Wahrscheinlich kommen zu so einem Treffen eben doch Leute,
die schon länger schreiben, mehr Übung haben und die Sache ernsthafter
betreiben als solche, die ihre Werke auf ihrer Homepage vorstellen. Wer
zu einem Autorentreffen geht, will Kritik hören, ist wahrscheinlich
daran interessiert, die eigenen Geschichten zu verbessern. Auf einer Homepage
kann jeder schreiben, wie es ihm passt, man braucht sich keine Kritik anzuhören.
Die Kritik war detailliert, sachkundig, aber nicht verletzend. Ich glaube,
sie war förderlich für die Schreiber. Etwas schwierig ist das
Zuhören. Ich bin gewohnt, fremde Geschichten langsam zu lesen und
dann, wenn ich glaube, dass es sich lohnt, noch einmal zu lesen. Wenn ich
fremde Geschichten kritisiere, dann lese ich immer mindestens zweimal.
Wenn man den Text nur hört, und noch dazu nur einmal und nicht von
einem professionellen Sprecher vorgetragen, sondern von einem doch etwas
nervösen Hobbyautor, dann kann die Kritik natürlich nicht so
fundiert sein.
Für mich war das Treffen ein Anstoß, wieder mal zu schreiben.
Stefan Leichsenring
*) Die Namen wurden geändert.
(Januar 2000)
P.S.: Die Gruppe Ibis hat derzeit ihre optimale Mitgliederzahl erreicht. Wir suchen deshalb keine neuen Mitglieder. Ausgewählte Texte der Ibis-Mitglieder finden sich unter http://www.ibis-gruppe.de.vu. (Juni 2003)
E-Mail: webmaster@leixoletti.de
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